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Veröffentlicht am 15­.03.2010

15.3.2010 - tz München

Kirchenbewegung erschüttert: „Papst verkennt das Ausmaß“

Missbrauchsskandale erschüttern die deutsche Kirche bis aufs Mark. Warum schweigt der Papst?

Christian Weisner: Ich kann das nicht nachvollziehen. Viele kirchentreue Katholiken bedauern es, dass Benedikt XVI. beim Angelus- Gebet nicht einmal ein kleines Wort des Mitgefühls geäußert hat. Es ist zu befürchten, dass der Papst das wahre Ausmaß der Verunsicherung nicht wahrgenommen hat.

Oder ist der MissbrauchsskandalangesichtseinerMilliarde Katholiken weltweit noch zu klein aus Kirchensicht?

Weisner: Immerhin sind derzeit auch die Kirchen in den Niederlanden, Irland, Deutschland und Österreich wesentlich erschüttert. Wir erlebenaber,dassdieZahlen schöngeredet werden. So sagt der Vatikan zwar, dass er seit 2001 etwa 3000 Beschuldigungen wegen sexueller Übertretungen bearbeitet hat. Wenn er dabei betont, dass nur zehn Prozent davon Pädophilie betreffen, so unterschlägt er 1800 homosexuelle Übergriffe auf männliche Jugendliche, die ebenso unerlaubt sind. Wenn es der Kirche wirklichum Aufklärung ginge, sollte der Papst auch die deutsche Kirche zu der gleichen Null-Toleranz-Politik drängen, die er in den USA schon vertritt.

Der Vatikan verkündete am Wochenende: Vielen geht es bei der Aufklärung der Missbrauchsfälle nicht um die Opfer, sondern um Attacken auf den Papst.

Weisner: Das ist die denkbar schlechteste Kommunikationsstrategie. Als ich Vatikansprecher Lombardi das sagen hörte, war ich sehr betroffen. Warum sagte er nicht, wie der Papst den eigentlichen Fall empfindet, sondern ging nur zum Angriff über? Dabei kann man doch auch aus Liebe zur Kirche heraus kritisieren! Die Frage ist, warum die Kirche ihre Selbstheilungskräfte nicht zulässt: Immerhin wurden auch Folter und Hexenverbrennung aus der Kirche heraus abgeschafft.

Es gibt die Argumentation: Missbrauch gibt es eben überall, und damit auch in der Kirche …

Weisner: In Internaten und anderen geschlossenen Systemen ist ein Missbrauch leichter möglich. Besonders schwerwiegendister, wenn er von Personen kommt, die einerseits väterliche Rollen einnehmen und obendrein religiöses Vorbild sind.

Inwiefern sehen Sie auch das Zölibat als ein Problem an?

Weisner: Zölibat führt nicht zwangsläufig zu Missbrauch. Diesen simplen und direkten Zusammenhang gibt es nicht. Statt einer Zölibats- braucht die Kirche vielmehr eine Sexualdebatte über all ihre Tabus wie Homosexualität und Familienplanung. Dazu gehört dann aber auch das Zölibat als Ausdruck einer grundsätzlichen Frauen- und Sexualfeindlichkeit.

INTERVIEW: W. SCHNEEWEIß

Zuletzt geändert am 19­.03.2010