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Veröffentlicht am 15­.02.2010

15.2.2010 - Spiegel.de

Missbrauch an Jesuitenschulen. Mehr als hundert Opfer haben sich gemeldet

Der Papst und Bischöfe bei Krisengesprächen im Vatikan: "Es wird über alles zu reden sein" Der Skandal um sexuellen Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg und anderen Jesuitenschulen nimmt immer größere Ausmaße an. Inzwischen haben sich mehr als hundert Opfer aus ganz Deutschland gemeldet. Unterdessen begannen im Vatikan Krisengespräche über den Missbrauchsskandal in Irland.

Hamburg - Die katholische Kirche sieht sich mit einer stetig steigenden Zahl der Fälle von Kindesmissbrauch an Jesuitenschulen konfrontiert. "Es sind inzwischen über hundert Fälle, die sich am Canisius-Kolleg oder bei mir gemeldet haben", sagte die vom Jesuitenorden mit der Untersuchung der Vorwürfe beauftragte Berliner Rechtsanwältin Ursula Raue am Montag.

Nicht alle Opfer hätten das Canisius-Kolleg in Berlin besucht. Die meisten betroffenen Schüler kämen jedoch von den drei Jesuitenkollegs - außer Berlin das Kolleg St. Blasien im Schwarzwald und das Bonner Aloisiuskolleg.

Die Rechtsanwältin und Mediatorin erarbeitet einen Bericht über den Missbrauch durch die beschuldigten Patres. Ein Zwischenbericht soll im Laufe dieser Woche fertiggestellt und an den Hauptsitz des Jesuitenordens in München gesandt werden.

Der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes, hatte der "Berliner Zeitung" zuvor gesagt, er halte eine dreistellige Opferzahl inzwischen für möglich. Er zeigte sich zugleich offen für die finanzielle Entschädigung der Opfer, wie sie beim Missbrauchsskandal in kirchlichen Einrichtungen in den USA gezahlt wurde. "Es wird über alles zu reden sein", sagte Mertes.

Mertes hatte Berichte über sexuelle Übergriffe zweier Patres am Canisius-Kolleg in den siebziger und achtziger Jahren öffentlich gemacht, als er im Januar in einem Brief ehemalige Schüler der betroffenen Jahrgänge um Entschuldigung bat und dazu aufrief, "das Schweigen zu brechen". Nach Angaben der Staatsanwaltschaft sind die Fälle strafrechtlich verjährt. Im Zuge der Untersuchungen wurden auch sexuelle Übergriffe an Jesuitenschulen in Hamburg, Bonn und im Schwarzwald bekannt.

Wie Mertes sieht auch die Berliner Anwältin Manuela Groll, die mehrere Opfer vertritt, die Dimension des Falles wachsen. "Jeden Tag melden sich bei mir weitere Betroffene", sagte sie der "Berliner Zeitung". Laut Groll lehnen es viele Opfer ab, sich an die vom Jesuitenorden bestellte Missbrauchsbeauftragte Raue zu wenden. Sie hielten diese für befangen, weil sie vom Jesuitenorden bezahlt werde. Dagegen sagte Mertes der "Berliner Zeitung", er halte Raue für unabhängig und vertraue ihr.

Im Vatikan beginnen zweitägige Krisengespräche

Auch das Bistum Hildesheim erhielt am Montag neue Hinweise auf Missbrauchsfälle. Diese liegen zumeist 35 bis zu 50 Jahre zurück, teilte das Bistum mit. Dabei sollen sich Geistliche an Jugendlichen vergangen haben. Ein Teil davon betreffe die beiden Jesuitenpater, die schon für etliche Missbrauchsfälle in Deutschland verantwortlich gemacht werden.

Außerdem gingen Hinweise auf sexuelle Übergriffe durch sechs weitere, bereits verstorbene Priester ein. Ein anderes Opfer habe einen seit langem im Ruhestand lebenden Seelsorger beschuldigt, bei einem anderen beschuldigten Priester sei ungewiss, ob dieser noch lebe.

Unterdessen begannen im Vatikan zweitägige Krisengespräche zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche in Irland. Tausende Heimkinder waren bis in die neunziger Jahre von Geistlichen in kirchlichen Einrichtungen auf der Insel gequält und vergewaltigt worden. Zwei Untersuchungsberichte hatten die Fälle im vergangenen Jahr aufgedeckt. Die Opfer forderten vom Papst Rechenschaft und von der Kirche finanzielle Entschädigung.

Die irische Kirchenvolksbewegung "We are Church" verlangte in diesem Zusammenhang eine radikale Reform der Kirche. So müssten die hierarchischen Strukturen und das Priestertum verändert werden, um die "weltweite Krise der Kirche" nach den Missbrauchsfällen in Irland zu lösen. "Wir können in der Katholischen Kirche in Irland nicht weitermachen, als hätte sich nichts verändert."

siu/dpa/AFP/apn

URL: http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,678074,00.html

Zuletzt geändert am 16­.02.2010