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Veröffentlicht am 14­.04.2006

14. April 2006 - Die Presse

Ein Jahr: Benedikt XVI. ist Ratzinger geblieben

Von unserem Korrespondenten PAUL KREINER

Ein Jahr Papst. Der Pontifex macht "bella figura" - und ist kein Jota von der Lehre abgewichen. ROM. Ein Jahr nun fast ist Joseph Ratzinger Papst, und alle sagen, er mache seine Sache gut. Als strengen, düsteren Glaubenswächter glaubte ihn die Welt vor seiner Wahl am 19. April 2005 zu kennen: "Aber passt auf, der Mann wird euch überraschen", versicherten dann vor allem die Konservativen - ausgerechnet jene also, die in ihrer Kirche nichts weniger wünschen als Überraschungen.

Die erste Überraschung ist tatsächlich eingetreten. Mit dem Wechsel in die weiße Papstsoutane hat Ratzinger offenbar auch den rabenschwarzen Habit des "Inquisitors" abgestreift. Seine erste Enzyklika handelt von der Liebe, nicht von Moral und Strafe.

Benedikt XVI. erscheint als milder Pontifex. Er lächelt, mittlerweile schon ganz unbefangen. Er spricht frei, er erklärt Kindern in bewundernswert einfachen Worten die Wahrheiten des katholischen Glaubens. Der scheue Büchermensch hat den unverkrampften Kontakt mit den Massen gelernt.

Auch macht er nicht den Eindruck, als ob er mit seinen bald 79 Jahren (Geburtstag am Ostersonntag) unter der Last des Papsttums litte. Soweit man das von außen sagen kann: Benedikt XVI. wirkt glücklich. Und heitere Fernsehbilder gehen rund um den Erdball.

Die Sympathiewelle, die dem Papst nicht zuletzt aus Deutschland entgegenschlägt, ist mittlerweile so hoch, dass die Vergangenheit Benedikts XVI. wie weggespült erscheint. War nicht Joseph Ratzinger, mehr als 23 Jahre lang, der Steuermann in einem Vatikan, an dessen Bollwerken ganz andere Wogen hochbrandeten: Der Protest gegen autoritäre Bischofsernennungen, gegen die Suspendierung der Befreiungstheologie, gegen Lehramts-Entzüge, gegen Benachteiligung von Frauen, gegen lebensfremde Moralgebote, gegen den Zölibat, gegen die mangelnde Mitsprache von Laien? Wo sind jene Hunderttausenden geblieben, die das Kirchenvolksbegehren unterzeichnet haben? Sind ihnen etwa die Themen nicht mehr wichtig, die sie damals für das Bedeutendste an der Kirche ausgegeben haben? Oder gestehen sie mit ihrem Schweigen heute etwa ein, dass sie sich geirrt haben?

Denn nichts, nicht ein Jota, hat Benedikt XVI. von seiner früheren Lehre und jener Johannes Pauls II. weggenommen. Und es gibt durchaus zu denken, wie schnell und kritiklos ein massiver inhaltlicher Protest einschlafen kann, nur weil dessen Hauptobjekt auf einmal freundlich lächelt.

Während der Papst "bella figura" macht, arbeiten die unteren Chargen des Vatikan weiter wie bisher. Das hat sich erst dieser Tage wieder am Beispiel jenes Regensburger Religionslehrers gezeigt, dem die Kleruskongregation das Unterrichten verboten hat, weil er einer Gruppe des Kirchenvolksbegehrens angehört.

Kalt abserviert wurden im Vatikan der heutzutage so wichtige Chef des Rates für den Dialog mit den Weltreligionen und sein Kollege vom Rat für Flüchtlinge und Migranten. "Keiner hat mich gefragt", sagt dieser, der japanische Kardinal Hamao: "Ich fühle mich etwas traurig."

In der engeren, alten Nomenklatur des Vatikan hingegen gibt es keine Veränderungen. Ein starker Teil der Kurienmitglieder ist über der Altersgrenze; trotzdem hat Benedikt XVI. nichts getan, den stetig gewachsenen Umbesetzungs-Stau aus den letzten Amtsjahren Johannes Pauls II. aufzulösen.

Auch seine ersten Kardinals-Kreierungen hat der Nachfolger nicht dazu genutzt, neue Signale zu setzen. Personell und inhaltlich dauert der Stillstand fort.

So sehr, bis in die Tatsache und die Programmdetails seiner bevorstehenden Polenreise hinein, wandelt Benedikt XVI. auf den Spuren Johannes Pauls II., dass sich der Eindruck aufdrängt, er sehe seine Rolle vor allem als demütiger Stellvertreter für einen großen Ab- und doch beständig Anwesenden.

Benedikt XVI. ist Ratzinger geblieben: der ewig Zweite, die Stütze eines Riesen. Das ist seine Schwäche. Das ist seine Stärke. Die Kirche vertrüge ja, unmittelbar nach Johannes Paul II., wohl keinen weiteren Energischen dieser Art.

Zuletzt geändert am 09­.05.2006