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Veröffentlicht am 10­.05.2016

Mai 2016 - Kirche In (Kolumne „Unzensiert“)

Wasser im Wein

Wein unverdünnt zu trinken ist noch gar nicht so lange üblich. Sowohl im Altertum als auch Mittelalter war es durchaus gebräuchlich, mit Wasser die Bekömmlichkeit zu verbessern und auch den Geschmack angenehmer zu machen. Oft genug war der Wein viel zu stark oder auch zu sauer um ihn unvermischt genießen zu können.

Nun hat das nachsynodale Schreiben von Papst Franziskus bei vielen nahezu euphorische Reaktionen ausgelöst. Er behandle das Thema Familie nicht mehr als ein Problem, sondern als eine Chance, er deute Sexualität als ein wunderbares Geschenk, er öffne Türen für die Gewissensfreiheit, er vollziehe einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel, indem er das lehramtliche Eingreifen in doktrinellen, moralischen und pastoralen Diskussionen für nicht mehr unbedingt notwendig erkläre und die Subsidiarität der Ortskirchen damit stärke.

Und in der Tat, es gibt in diesem Schreiben, das wirklich gut zu lesen ist, viele Passagen und Sätze, die tun gut, die sind einfach nur richtig und helfen weiter. Und trotzdem. Ich gieße Wasser in den Wein, denn ganz pur ist es doch nicht so bekömmlich. Mir fehlt die kritische Reflexion der eigenen Grundlagen. Ist es wirklich so, dass die Unauflöslichkeit der Ehe biblisch betoniert ist oder wurde da nicht etwas konstruiert, das der Kirche helfen sollte, ihre Schäfchen zu disziplinieren? Ist es wirklich so, dass der Auftrag „seid fruchtbar und mehret euch“ nur in quantitativer Hinsicht gedeutet werden kann und nicht auch in qualitativer, also nicht „werdet mehr Menschen“ sondern „werdet mehr Mensch“? Und ist es wirklich richtig, dass der biologische „Normalfall“ der heterosexuellen Beziehung als Begründung dafür herhalten kann, dass homosexuelle Partnerschaften nicht genau die gleiche Wertschätzung und kirchliche Zuwendung erhalten dürfen?

Wir sind Kirche ist vor über 20 Jahren unter anderem mit den Forderungen „Frohbotschaft statt Drohbotschaft“ und „Positive Bewertung der Sexualität“ angetreten. Mag sein, dass mit „Amoris Laetitia“ Licht am Ende des Tunnels aufscheint. Der Weg bis dorthin ist auf jeden Fall noch weit und mit viel Wasser im Wein sicher besser zurückzulegen als berauscht.

Sigrid Grabmeier

Zuletzt geändert am 24­.04.2016