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Veröffentlicht am 08­.09.2006

8. September 2006 - Publik-Forum

Angst vor der Freiheit

Benedikt XVI. und die fünf »Fallen«, aus denen sich Katholiken befreien sollten.
Kritische Anmerkungen zum bisherigen Pontifikat des deutschen Papstes


Von Hermann Häring

Im Jahre 1968 unterzeichneten 1322 Männer und Frauen eine Resolution für die Freiheit der Theologie, ohne Erfolg. 1995 bekannten sich nahezu 1,5 Millionen Katholiken zu fünf Reformforderungen, deren Verwirklichung einen strukturell und spirituell unerhörten Erneuerungsschub ausgelöst hätte – doch nichts geschah. Auch das neue Pontifikat lässt (noch) keine Erneuerung erkennen. Zwar fand die erste Enzyklika »Gott ist die Liebe« ein positives Echo. Doch allmählich gerät sie zum Alibi, denn eine unversöhnliche Kirchenadministration widerlegt sie.

An dem Theologen Gotthold Hasenhüttl wird päpstliche Macht demonstriert, und der Bischof von Regensburg darf sich als Potentat gebärden. Bei Donum Vitae werden die Daumenschrauben angezogen, und Kardinal Walter Kasper erklärt in vorsichtigen Worten, die Annäherung an die evangelischen Kirchen liege vorerst auf Eis. Auf breiter Front brechen die Seelsorgestrukturen zusammen, und Benedikt XVI. stellt ungerührt fest, in ihrem »Übergewicht« würden sich die Frauen mit »Schwung, Kraft und geistlicher Potenz« in der Kirche ihren Platz verschaffen.

Offensichtlich kann der Papst jetzt ernten, was er als Präfekt der Glaubenskongregation gesät hat. Wiederholt hat er den Verdacht ausgestreut, seinen Kritikern sei die Gewohnheit wichtiger als die Wahrheit, sie würden sich nicht mehr wirklich zum Glauben bekennen. Solange Rom jedoch nur als Wahrheit anerkennt, was seinen eigenen Gewohnheiten entspricht, stößt dieser böse Verdacht ins Leere. Das Problem lautet nicht Ungehorsam oder Anpassung, sondern falsche Bescheidenheit, nicht Eigensinn, sondern Angst vor der Verletzung des inneren Friedens. Daran lässt sich arbeiten, deshalb besteht kein Grund zur Resignation. Ich nenne fünf Fallen, aus denen sich Katholiken lieber schon heute als morgen befreien sollten.

Mangelnder Glaube? Gerne präsentieren sich die Bischöfe als Hüter des wahren Glaubens. Die Mitra, die Benedikt XVI. zur Amtseinführung trug, war mit dem Logo des Römischen Katechismus bestickt – ein erster Hinweis auf sein pontifikales Programm. Doch wissen wir, dass ein solches Regelwerk die täglichen Sinn- und Existenzfragen nicht lösen kann. Auch für Katholiken bleibt Gott ein unaussprechliches Geheimnis, Glaube hat mit Wagnis und Vertrauen zu tun. Gerne unterscheiden wir mit dem Papst zusammen zwischen Buchstabe und Geist. Es gibt also keinerlei Grund dafür, dass uns die Messlatte eines wohlformulierten Glaubenssystems ängstigt; denn eine Glaubensüberzeugung, die sich nicht in Auseinandersetzung und menschlichen Gesprächen bewährt, verurteilt sich selbst. Das lässt sich getrost schon bei Jesus lernen.

Überlegene Theologie? Benedikt XVI. gilt als gelehrter Theologe. Sein Sprachvermögen und die Kenntnisse des »Platonikers« (wie er sich selbst einmal nannte), seine Vertrautheit mit Augustinus und Bonaventura seien nicht angezweifelt. Doch sei auch in aller Nüchternheit festgestellt, dass theologisches Nachdenken in jeder Epoche neu zum notwendigen Experiment und zur unverzichtbaren Baustelle geworden ist. Nicht das hellenistisch-metaphysische Denken an sich sei kritisiert, sondern die Tatsache, dass es keine Konkurrenz zulässt, auf neues Denken nur mit Ablehnung reagiert.

Der gegenwärtige Unwille zum Gespräch entlarvt sich selbst. So war schon die Verurteilung der Befreiungstheologie eher ein Armutszeugnis als ein christlicher Ordnungsruf. Wer die historisch-kritische Exegese immer noch als unkirchlich abtut, die Frage nach Jesus oder die Anfragen eines zeitgemäßen Menschenbildes diskriminiert, Frauen aus amtlichen Funktionen ausschließt, hat den christlichen Gegenwartsimpuls halt nicht begriffen. Wer Andersdenkende konstant der Oberflächlichkeit oder des Relativismus, gar der Diktatur bezichtigt, langweilt auf Dauer seine Leser und Zuhörer. Kein Grund also zur Resignation für diejenigen, die den Schatz vergangener Weisheit mit Weisheitserkundungen der Gegenwart konfrontieren. Ohne ihre hartnäckigen Nachfragen wäre es um die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche noch wesentlich schlechter bestellt.

Unantastbare Tradition? Das große Schlagwort, das die katholische Kirche auszeichnet und zugleich gefangen hält, heißt Tradition. Man überschätzt sie als Garantie des wahren Glaubens. Seit der Romantik dient sie zur Abwehr von Neuerungen. Rom versteht darunter die altkirchlichen Lehrformeln zu Jesus Christus, so, als hätte das Christentum erst im 4. Jahrhundert begonnen. Dabei wird die wirklich große Überlieferung verdrängt, die mit den Schriften der Bibel schon längst vor dem Christentum begann. Im Rückgriff auf die Schrift liegt aber die unbesiegbare Kraft gegenwärtiger Kirchenkritik, weil ihre »Freude an Christus eben doch größer ist«. Schließlich hat sich kirchliche Würde an jener Erinnerung zu messen, die mit dem brennenden Dornbusch beginnt und in der Geschichte Jesu ihre christliche Perspektive findet.

So können wir die Debatte um die wahre Tradition wohlgemut angehen. Zu keinem »Bündel vielfältiger Theorien« führt dieser Rückgriff, wie der Glaubenspräfekt noch behauptete, sondern zu ökumenischem Gespräch, zu spiritueller Tiefe und zu einer Neuentdeckung dessen, was heute Menschsein für Menschen bedeutet. Wer sich auf diesen Weg begibt, hat die christliche Botschaft auf seiner Seite.

Glaubensgehorsam? Seit den 1960er Jahren ist die Deutung der Gegenwartskrise des jetzigen Papstes von Angst vor autonomer Freiheit und kritischem Denken, vor »Subjektivismus«, »Liberalismus«, dem »Gewirr wechselnder Hypothesen« und modern angepasster »Etiketten«, vor der »Selbstmächtigkeit« des heutigen Menschen geprägt. Es gebe eine »Diktatur scheinbarer Toleranz«, die den Glauben selbst für intolerant erklärt. Zwar nennen solche Vorwürfe nie Ross und Reiter, aber sie spielen mit der Bereitschaft der meisten Katholiken, sich selbst nicht zu überschätzen, auf die Wahrheit wirklich zu hören, die Glaubensgemeinschaft nicht aufs Spiel zu setzen. Wer wollte solchen Worten nicht zustimmen: »Der Glaube sucht nicht den Konflikt, er sucht den Raum der Freiheit und des gegenseitigen Sich-Ertragens.«

Auch dieser kirchenamtliche Satz kann mühelos den Adressaten wechseln, denn bei der Vielzahl erzwungener Konflikte ist das Kirchenvolk mit Diskussions- und Handlungsverboten übersättigt. Es macht sich dieses Freiheitswort gerne zu Eigen. Die Erneuerung der Kirche gelingt in dem Maße, als Katholiken, die alle im Geist getauft sind, autoritäres Denken durchbrechen. In der gegenwärtigen Situation beginnt der wahre Glaubensgehorsam deshalb mit dem Widerstand gegen alles, was die wohl verantwortete Freiheit der Kinder Gottes unterdrückt. Das ist ein wirklich schöner, vielleicht der beste Dienst, den die Kirche benötigt.

Veröffentlichte Meinung? Der Öffentlichkeitserfolg des letzten Papstes und der Weltjugendtag in Köln (2005) haben keine langfristigen Wirkungen erzielt. Dagegen wiegen sich viele Bischöfe im Glauben, die Kirche Deutschlands befinde sich im Aufwind, so als wäre Lady Diana katholisch und die Fußballweltmeisterschaft eine kirchliche Veranstaltung gewesen. Dabei sind es die Medien, die unsere gesellschaftliche und kulturelle Kommunikation tiefgreifend verändert, Überwältigungsmechanismen und Selbstinszenierung zur Regel gemacht haben. Damit hat die katholische Kirche seit der Barockzeit Erfahrung, als sie (gut antiprotestantisch) den »Triumph der Gnade« zu inszenieren begann.

Für Benedikt XVI. hat eine »große, universale Gemeinschaft etwas Tragendes«. Ich befürchte, dass inszenierte Massenfrömmigkeit nur ozeanische Gefühle produziert, alte Gewohnheiten bestätigt und eine narzisstische Selbstdarstellung fördert. Liturgie wird zum Massenereignis, zur Mustermesse pervertiert. Das Gegengift einer Eventkultur heißt dagegen: unverbrüchliche Authentizität, eben keine Demonstration von Ordnung und Macht, sondern die Erfahrung einer überschaubaren Gemeinschaft, in der innere Freiheit wachsen kann.

In einem Ratzingerbuch lese ich, der Katholizismus erscheine »immer wieder als Gabe, als spirituelle Vielfältigkeit. Eine Uniformität des Katholischen gibt es nicht«. Eine bessere Ermutigung kann das Kirchenvolk nicht finden. Doch: Nicht die veröffentlichte und vielfältig gelenkte Meinung interessiert, sondern die Wirklichkeit vor Ort, nicht »das Jungsein der Kirche« in hierarchisch opportunen Sondergruppen, sondern in den Gemeinden, auf dem Schnittpunkt zu einem säkularisierten Alltag, wo imperialer Purpur keinen Eindruck mehr macht.

Alles in allem also kein Anlass zur Resignation, sondern eine Fülle von Gründen, um zu Trägerinnen und Trägern eines vitalen Glaubensbewusstseins zu werden. Es wird sich aus biblischer Spiritualität nähren, den Austausch mit anderen Kirchen suchen und in christlichem Freimut die Zukunft der Gemeinden in die eigenen Hände nehmen. So endlich wird Christsein wieder zur »positiven Option«.

Der Autor, Hermann Häring, war bis 2005 Professor für Systematische Theologie an der Katholischen Universität Nimwegen. Heute lebt und arbeitet er in Tübingen

Zuletzt geändert am 11­.09.2006