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Veröffentlicht am 13­.08.2010

13.8.2010 - Publik-Forum

Wille und Konsequenz

Sexueller Missbrauch: Der »Fall Zollitsch«, neue vatikanische Normen und die Forderungen der Opfer. Ein Zwischenbericht

Von Hartmut Meesmann

Die Taten seien verjährt. Mit dieser Begründung hat die Staatsanwaltschaft Konstanz die Ermittlungen gegen den Freiburger Erzbischof und Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, eingestellt. Strittig war gewesen, ob Zollitsch als damaliger Personalreferent der Diözese mitverantwortlich dafür war, dass im Jahr 1987 ein Zisterzienserpater im Kloster Birnau am Bodensee erneut mit einer Seelsorgeaufgabe betraut wurde, obwohl der Mann sich Ende der 1960er-Jahre sexueller Übergriffe gegenüber jungen schuldig gemacht hatte. Da der Pater in den 1980er-Jahren nicht erneut auffällig wurde, legte die Staatsanwaltschaft den Fall Zollitsch zu den Akten. Es sei ihr verwehrt geblieben, teilte sie mit, »weitergehende Ermittlungen durchzuführen zu der Frage, wer die Personalverantwortung für den Pater trug und ob beziehungsweise wann Dr. Zollitsch Kenntnis von einem erneuten Tätigwerden des Paters erlangte«.

Während das Erzbistum erklärte, Zollitsch sei nun »vollständig entlastet«, und noch einmal darauf verwies, dass die Zusammensetzung der Klostergemeinschaft in Birnau eigenständig vom Abt der Zisterzienser geregelt werde, kommen Kirchenrechtler nach einem Bericht der Badischen Zeitung zu einem differenzierteren Urteil. Zwar gehöre die Wallfahrts- und Klosterkirche Birnau als Priorat zur Abtei Mehrerau. Doch sei der Bischof von Freiburg sehr wohl für die Betreuung seiner Gemeindemitglieder durch die Patres zuständig. Das zeige sich zum Beispiel daran, dass Zollitsch die dortige Seelsorgeeinheit im Jahr 2007 neu eingerichtet und einen Zisterzienserpater zu ihrem Leiter bestellt hatte.

In den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz zum Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs durch Priester aus dem Jahr 2002 heißt es: »Die Zuständigkeit für die Prüfung von Fällen sexuellen Missbrauchs durch Ordensleute, die unter Gestellung im bischöflichen Auftrag tätig sind, liegt - unbeschadet der Verantwortung der Ordensoberen - bei der Diözese«, also beim zuständigen Bischof. Die Frage ist so gesehen, ob Zollitsch von den Vergehen des pädophilen Paters wusste oder nicht, ob er ihn also vorsätzlich neu einsetzte. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft gibt es für eine solche Vermutung »keinerlei Hinweise«.

Hingegen hat Zollitsch eine Fehlentscheidung aus seiner Zeit als Personalreferent eingeräumt. So hatte er damals verfügt, dass der Fall eines übergriffig gewordenen pädophilen Pfarrers aus dem badischen Oberharmesbach unter der Decke gehalten werden solle, um den Mann vor »Racheakten« zu schützen. Zollitsch hat sich für dieses Fehlverhalten inzwischen bei den Opfern entschuldigt.

Die »Leitlinien«. Stichwort »Leitlinien«. Im Frühjahr hieß es, sie sollten bis zum Sommer überarbeitet, das heißt verschärft werden. Matthias Kopp, Pressesprecher der Bischofskonferenz, lässt auf Nachfrage wissen, dass die Neufassung wohl »spätestens« zur Herbstvollversammlung der Bischöfe im September vorliegen werde. Es hat wohl in der Zwischenzeit noch einigen Diskussionsbedarf gegeben. Außerdem ist eine Studie, in der wesentliche Erkenntnisse zum Thema zusammengetragen werden sollen, »weiterhin geplant«. Doch auch da gibt es noch Klärungsbedarf, was die Zielrichtung angeht. Ausgewertet würden u. a. die Erfahrungen mit der offiziellen Telefon-Hotline für Missbrauchsopfer, so Kopp, die im Übrigen zeitlich nicht befristet sei.

Ungeduldig zeigt sich die Kirchenvolksbewegung Wir sind Kirche. Ein halbes Jahr nach der angekündigten »lückenlosen und transparenten Aufklärung« vermissen die Reformer eine offene Informationspolitik der Bischöfe und sprechen von »halbherzigem Lavieren«. Vor allem klagen sie Strukturreformen in der Kirche - sozusagen als Präventionsmaßnahmen - ein: Abschaffung der Zölibatsverpflichtung für die Priester, Zugang von Frauen zu den Weiheämtern, Enttabuisierung der Sexualität, vor allem der Homosexualität. Für alle diese Fragen sind in letzter Instanz der Papst und die Bischöfe in aller Welt zuständig.

Normen des Vatikans. Der Vatikan hat inzwischen seine »Normen über die schwerwiegenden Delikte« verschärft, zu denen auch der sexuelle Missbrauch zählt. Die Verjährungsfrist wurde von zehn auf zwanzig Jahre nach Erreichen der Volljährigkeit des Opfers verlängert. Besitz, Erwerb und Vertrieb von Kinderpornografie sowie der Missbrauch von Menschen mit geistiger Behinderung werden als besonders schwerwiegende Straftaten bezeichnet. Die Überarbeitung der 2001 erarbeiteten Normen garantiere »mehr Klarheit und Rechtssicherheit«, so Vatikansprecher Frederico Lombardi. Ähnlich sieht es der Kirchenanwalt der Glaubenskongregation, Charles Scicluna, für den die neuen Normen inhaltlich weitgehend die inzwischen geübte Praxis in der Verfolgung von Missbrauchsfällen wiedergeben. Das Vorgehen der Glaubenskongregation gegen die klerikalen Täter beruhe jetzt jedoch nicht mehr auf päpstlichen Vollmachten, sondern auf kirchlichen Gesetzen.

Allerdings muss in der Kirche - darauf hat Vatikansprecher Lombardi zu Recht hingewiesen - auch wirklich der Wille vorhanden sein, in der Priesterausbildung genauer hinzuschauen, die Prävention ernst zu nehmen und vor allem auch die Situation und die Erfordernisse der Opfer sensibel in den Blick zu nehmen. Wenn die Verantwortlichen überall in der Welt dies nicht umsetzen und ihnen die Institution nach wie vor wichtiger ist als der Mensch, dann bleiben alle Leitlinien und Normen Makulatur.

Entschädigung der Opfer. Mit den Forderungen der Opfer sexueller Übergriffe durch Priester muss sich jetzt zum Beispiel der Jesuitenorden in Deutschland auseinandersetzen. So klagt die Betroffenen-Initiative Eckiger Tisch eine baldige »substanzielle finanzielle Genugtuung« für das Erlittene ein. Die Initiative wirft den Jesuiten Verzögerungstaktik vor. Der Orden solle mutig mit einem eigenen Vorschlag an die Öffentlichkeit treten und nicht bis zu einer einvernehmlichen Entschädigungsregelung durch den von der Bundesregierung einberufenen Runden Tisch Missbrauch warten.

Auch die ehemalige grüne Gesundheitsministerin Andrea Fischer hat dem Jesuitenorden geraten, in der Frage der Entschädigung der Opfer voranzugehen. Fischer hatte im Auftrag des Ordens ein Sondergutachten über die Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg erstellt. Dort hatte die Lawine aufgedeckter Altfälle Anfang dieses Jahres ihren Ausgang genommen. Fischer: »Angesichts der Tatsache, dass keine Möglichkeit zu einer strafrechtlichen Verfolgung mehr besteht, ist eine solche symbolische Geste der ‚tätigen Reue’ von großer Bedeutung für die Opfer. Entschuldigungen wirken auf die Opfer schal, wenn, sie keine Konsequenzen haben.«

In ihrem Sondergutachten bescheinigt die frühere Politikerin dem Jesuitenorden, im Umgang mit Missbrauchsfällen an den ordenseigenen Schulen versagt zu haben, Sie hält aber zugleich ausdrücklich fest, dass der Orden »ein aufrichtiges Interesse« an der lückenlosen Aufklärung der eigenen Versäumnisse habe.

Fall Ahrensburg. Diesen Willen zur Aufklärung scheint auch die nordelbische evangelische Landeskirche zu haben, nachdem Bischöfin Maria Jepsen wegen eines Missbrauchsfalls aus den 1990er-Jahren in Ahrensburg zurückgetreten war (Publik-Forum 14/2010). Laut Bischof Gerhard Ulrich werden die Vorwürfe gegenwärtig in geordneten Verfahren aufgearbeitet. So seien gegen den Hauptbeschuldigten und einen Kollegen, der die Taten gedeckt haben soll, Disziplinarverfahren eingeleitet worden. Man werde in Kürze zu dem ganzen Thema einen Zwischenbericht vorlegen. Außerdem sei eine Kieler Anwaltskanzlei damit beauftragt worden, als externer Gutachter alle Vorgänge zu überprüfen. Die Anwälte sollen auch Hinweise geben, wie die kirchlichen Strukturen geändert werden könnten, damit sich interne Fehler nicht wiederholen. Auch stehen seit Anfang des Monats zwei Ombudsfrauen in Hamburg und Schleswig-Holstein für Opfer sexueller Übergriffe als Ansprechpartnerinnen zur Verfügung. In einem Brief an alle Gemeinden rief Bischof Ulrich dazu auf, Solidarität mit den Opfern zu zeigen: »Es muss uns bewusst bleiben, welche körperliche und seelische Grausamkeit sexueller Missbrauch ist.«

Zuletzt geändert am 14­.08.2010