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Veröffentlicht am 20­.05.2010

20.5.2010 - Stuttgarter Nachrichten

Zaghafte Schritte aus dem Jammertal

Der Missbrauchsskandal hat die Kirche in eine dramatische Krise gestürzt. Nur Selbstkritik und radikale Erneuerung können sie retten

Immer neue Missbrauchsfälle erschüttern die Katholische Kirche in ihren Grundfesten: Die Gläubigen treten in Scharen aus, viele Priester sind verunsichert, die Bischöfe üben sich in Krisenmanagement. Doch wie reformwillig und reformfähig ist die Kirche wirklich?

Von Markus Brauer

MÜNCHEN. Manchmal kann ein einziger Brief eine Lawine ins Rollen bringen. Ende Januar schrieb der Rektor des von Jesuiten betriebenen Canisius-Kollegs in Berlin- Tiergarten, Pater Klaus Mertes, einen solchen Brief. Adressiert an mehr als 600 ehemalige Schüler des Elitegymnasiums. Darin berichtet er von „systematischen und jahrelangen“ sexuellen Übergriffen durch Patres. Es war der Anfang einer beispiellosen Enthüllungsserie. Seitdem sind in Deutschlands Klöstern, katholischen Heimen, Schulen und Internaten immer neue Missbrauchsfälle aufgetaucht.

Das Leid der Opfer, ihr Schmerz, ihre Scham und Trauer wurden von den Kirchenleitungen systematisch vertuscht und verschwiegen. Es habe eine „Kultur des Verdrängens, Nicht-wahrhaben-Wollens und Wegschauens“ gegeben, bekennt Alois Glück, der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK).

„Anfangs war ich schockiert und desorientiert“, sagt Jan Roser, „die Berichte von Missbrauch aus den 70er und 80er Jahren decken sich so überhaupt nicht mit meinen eigenen positiven Erfahrungen von Orden und Kirche.“ Für ihn bedeutet der Missbrauchsskandal „das Ende einer gewissen Naivität“. Der 40-jährige Jesuit ist ein eloquenter Gesprächspartner. Doch bei diesem Thema ringt auch er nach Worten. Mitbrüder ausdem eigenen Orden, in den er ein großes Vertrauen setzt, sollen ihren pädagogischen Auftrag verraten und das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen derart missbraucht haben? „Meine erste, rein emotionale Reaktion war: austreten? Sehr schnell kam mir dann allerdings der Gedanke, dass ich dann aus der ,Menschheit insgesamt‘ austreten müsste, denn Missbrauch ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und beschränkt sich nicht auf die Kirche.“

Es sei ein Kardinalfehler gewesen, dass die Kirche die Augen vor diesen Missständen verschlossen habe, erklärt Roser. Und dass die Sorge von Verantwortlichen in erster Linie dem Ansehen der Institution und dem Umgang mit den Tätern galt – und die Opfer dabei sträflich vernachlässigt wurden. Kann eine Institution, die derartig blinde Flecken aufweist, überhaupt reformiert werden? Vieles in der Kirche habe eine Zukunft, antwortet der Jesuit, aber es müsse in dieser Frage tiefgreifende Reformen geben. Erschwert werde ein offenes und transparentes Handeln auch durch den Umstand, „dass die Kirche in der Lebenswelt vieler Menschen an Boden verloren hat und manchen Anfragen der modernen Gesellschaft ängstlich gegenübersteht“. Die Kirche könne jetzt aber eine Vorreiterfunktion im offenen Umgang und der Bewältigung dieser Missstände einnehmen.

Bis vor kurzem war der Jesuitenpater in der Ausbildung des Ordensnachwuchses tätig, der in München an der Hochschule für Philosophie studiert. In Deutschland gibt es insgesamt 409 Jesuiten, darunter 50 junge Männer, die sich auf den Ordensberuf vorbereiten. Einer von ihnen ist Stefan Reichel, ein Wiener Psychologe.

Ihn habe es sehr erleichtert, betont der 29-Jährige, dass die Jesuiten so schnell auf den Missbrauchsskandal reagiert hätten und um Transparenz bemüht seien. „Es war ein Lichtblick am Horizont.“ An seinem Wunsch, Priester zu werden, habe sich aber nichts geändert. Auch seinen Optimismus habe er nicht verloren. Reichel: „Die Kirche ist eine lernende Organisation. Der Mut zur Erneuerung wächst.“

In der deutschen Kirche sind erste Fortschritte unverkennbar: Die Bischöfe haben sich eindeutig auf die Seite der Opfer gestellt und bemühen sich um Aufklärung. Sie haben einen Missbrauchsbeauftragten eingesetzt, eine Beratungs-Hotline geschaffen und verschärfen ihre Missbrauchsrichtlinien. „Ich glaube an den Wandel der Kirche“, betont Reichel. „Entweder wird jetzt etwas getan, oder man muss hinnehmen, dass vieles zerfällt.“

Auch sein Mitbruder, der Wirtschaftsingenieur Christian Braunigger (30), resigniert nicht. Die Missbrauchsfälle innerhalb der Kirche haben ihn erschüttert, denn „wer hohe moralische Ansprüche hat wie die Kirche, sollte sie selber einhalten“. Doch der Missbrauchsskandal zeige auch, wie notwendig Reformen seien. Braunigger: „Die Kirche kann sich erneuern, und sie wird sich wie in den letzten 50 Jahren verändern.“

In Reichels Heimatbistum Wien hat Kardinal Christoph Schönborn jüngst verkündet, dass „die Zeit der Vertuschung irreversibel vorbei“ sei. Schönborn ist einer der Hoffnungsträger der Katholischen Kirche, der auch vor heißen Eisen wie dem Zölibat nicht zurückschreckt. Doch reicht der Mut von Einzelnen aus,umden Reformeifer in der gesamten Kirche zu entfachen und sie aus dem derzeitigen Jammertal zu führen? Der Vertrauensverlust der vergangenen Wochen und Monate ist immens.Die Austrittszahlen in Bistümern wie Rottenburg-Stuttgart, Freiburg oder Augsburg haben sich teilweise verdoppelt. Fast ein Viertel der Katholiken haben laut einer Forsa-Umfrage bereits an einen Kirchenaustritt gedacht. 77 Prozent der Befragten haben den Eindruck, die Kirche versuche manches zu vertuschen.

Durch den Missbrauchsskandal ist die Katholische Kirche in eine existenzielle Krise gestürzt worden. Anders als bei der Affäre um die traditionalistische Piusbruderschaft ist dies auch kein Ausrutscher einiger reaktionärer Kirchenfürsten. Ob die aktuelle Krise den Beginn der Erneuerung oder des Niedergangs markiert, hängt davon ab, wie die Verantwortlichen die Erfahrungen der letzten Monate verarbeiten und welche Konsequenzen sie daraus ziehen. Doch werden die beschlossenen Maßnahmen auch ausreichen, um die Krise zu überwinden? „Was sollen die Bischöfe denn noch tun?“, entgegnet ein Theologieprofessor, der ungenannt bleiben möchte. „Wie sie agieren, finde ich gut. Es läuft alles richtig.“ Die Katholische Kirche werde sich erneuern, da sei er sich ganz sicher. Die kirchlichen Reformen im 20. Jahrhundert, vor allem das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) seien dafür das beste Beispiel.

Dieser Optimismus wird indes nicht von allen in der Kirche geteilt. Kritische Theologen und Laienorganisationen warnen seit Jahren vor restaurativen Tendenzen. Sie sehen die Ursache für die gegenwärtige Krise nicht nur in den weltweit bekanntwerdenden Missbrauchsfällen, sondern vor allem in den seit Jahrzehnten versäumten Reformen und Versäumnissen der Kirchenführung.

„Dieses klerikale System eines sexualfeindlichen Männerbunds ist nicht in der Lage, das Missbrauchsproblem zu lösen“, argumentiert Christian Weisner von der Kirchenvolksbewegung. „Wir wollen eine offene Kirche, die sich den Fragen der modernen Gesellschaft stellt, und keine klerikale Sekte.“ Jetzt aus der Kirche auszutreten sei aber das falsche Signal. Weisner: „Jeder Austritt schwächt die Reformkräfte.“


Nach Angaben der deutschen Bischofskonferenz sind rund 10 500 Priester in den 27 deutschen Bistümern im aktiven Dienst. Seit 1998 ist ihre Zahlumfast 20 Prozent zurückgegangen. Der Priestermangel führt dazu, dass Pfarrer vier, fünf und mehr Gemeinden betreuen müssen. Viele fühlen sich ausgebrannt und überfordert. Doch nur wenige Geistliche wagen es so offen wie Harald Fischer auszusprechen, was zu tun ist und was die Mehrheit der Katholiken denkt.

Weil der Kasseler Stadtdechant Reformen einfordert, hat er sich eine Rüge von seiner Bistumsleitung in Fulda eingehandelt. Ein Verhalten, das der von den Bischöfen propagierten neuen Offenheit und Gedankenfreiheit Hohn spricht. Fischer gieße unnötig Öl ins Feuer und verunsichere die Gläubigen, lautet der Vorwurf. Worin besteht Fischers Vergehen? Der Stadtdechant hatte angesichts der Austrittswelle eine Abschaffung des Pflichtzölibats, die Zulassung von Frauen zum Priesteramt und eine liberalere Sexualmoral angemahnt. „Es gilt nicht nur, ein paar schwarze Schafe zu eliminieren, die Kinder oder Jugendliche missbraucht haben“, sagt er unserer Zeitung. Reformstau und Glaubwürdigkeitslücke hätten die Kirche in Gefahr gebracht. „Wir haben nichts zu verbergen. Die Wahrheit muss ungeschönt auf den Tisch.“

Aufklärung und Transparenz sind in der Tat der einzige Weg, um Glaubwürdigkeit und Vertrauen wiederzuerlangen. Das Bild der Kirche wird durch immer neue Enthüllungen beschädigt. So belegt ein aktueller Bericht des bayerischen Justizministeriums, dass zahlreiche Missbrauchsfälle über Jahrzehnte vor der Justiz verborgen gehalten wurden. In manchen Fällen habe sich gezeigt, dass die Verdachtsfälle innerkirchlich seit langem bekannt waren, erklärt Helmut Seitz, der Abteilungsleiter Strafrecht des Ministeriums. „Sie wurden damals nicht den Behörden mitgeteilt, sondern intern geregelt.“ Mehrfach auffällig gewordene Geistliche wurden versetzt.

Angesichts solcher Nachrichten fällt es der Kirche schwer, ihren Reformwillen glaubhaft zu machen. Viele Katholiken sind so erschüttert und verunsichert, dass sie den Beteuerungen ihrer Oberhirten nicht mehr glauben. Auch Hermann Häring (73) ist skeptisch. Nach Ansicht des Tübinger Theologen hat die Amtskirche – Papst, Kardinäle und Bischöfe – komplett versagt. Nun sei die Stunde der Kirchenbasis gekommen. Die Zeiten, in denen eine autoritäre Kirchenleitung wie unter Papst Johannes Paul II. die Reformkräfte überspielen konnte, seien endgültig vorbei. „Der Widerstand von unten wird immer entschiedener“, erklärt der emeritierte Professor, der von 1980 bis 2005 an der niederländischen Universität Nijmegen lehrte und als exzellenter Kenner der Theologie von Benedikt XVI. gilt.

Mit moralischer Strenge ließen sich so schwerwiegende Probleme wie sexueller Missbrauch durch Priester ohnehin nicht lösen, sagt Häring. Die Kirche brauche dringend eine Strukturreform. „Das Gute ist, dass diese Reform nicht mehr aufzuhalten ist. Es gibt für die Kirche eine Zukunft.“

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Hintergrund: Enttäuschte Gläubige
Die Zahl der Kirchenaustritte ist stark angestiegen. Der Mitgliederschwund im ersten Quartal 2010 lag vor allem in den süddeutschen Diözesen deutlich über dem der Vergleichsmonate 2009.

So traten im Bistum Rottenburg-Stuttgart im April 3409 Katholiken aus; im März waren es 2676. Im Februar, als es die ersten Veröffentlichungen über sexuellen Missbrauch von Priestern gab, lag die Zahl bei 920, im Januar waren es 1101. Im Jahr 2009 registrierte die Diözese, die rund 1,9 Millionen Mitglieder hat, 10 600 Austritte.

Im Erzbistum Freiburg traten im April 2974 Katholiken aus; im März waren es 2711, nachdem es im Vorjahresmonat 1058 waren.

In Köln wurde laut Amtsgericht die Rekordzahl von 459 Austritten im März mit 519 im April nochmals übertroffen.

In Regensburg verließen im März mit 212 Katholiken zweieinhalbmal so viele die Kirche wie im März 2009 (89).

Im Bistum Würzburg versechsfachte sich die Zahl von 219 Austritten im Januar auf 1233 im März.

Im Bistum Bamberg nahmen im März die Austritte von sonst durchschnittlich 250 auf etwa 1400 zu.

Im Bistum Augsburg gab es seit Jahresbeginn rund 4300 Austritte. (StN)

Zuletzt geändert am 29­.06.2010