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Veröffentlicht am 19­.05.2010

20.5.2010 - Rheinischer Merkur

„Mehr erreicht, als je zu erhoffen war“

Die Kirchenvolksbewegung spürt verstärkten Auftrieb für Reformen.

VON VERA RÜTTIMANN

1,8 Millionen Menschen haben 1995 in Deutschland einen Forderungskatalog zu Reformen in der katholischen Kirche unterschrieben. Ein Jahr später wurde die Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche“ gegründet. Auf dem Ökumenischen Kirchentag war die Plattform mit ihren Podien und Themen so präsent wie selten. Am Stand D14 in Halle 6 auf dem Messegelände bildeten sich den ganzen Tag über Menschentrauben. Die gelben Info-Flyer gingen weg wie warme Semmeln. Das war selbst für die medienverwöhnten Basischristen eine neue Erfahrung. Die Podien „Hans Küng und Jürgen Moltmann im spirituellen Dialog“, „Gespräche am Jakobsbrunnen“ und „Ökumene light?“ sowie die Menschenkette in der Innenstadt als sichtbares Signal für eine gemeinsame Mahlfeier waren Publikumsrenner.

München bot auch Gelegenheit, Bilanz zu ziehen. Zwar wurden in den vergangenen 15 Jahren keine ihrer Forderungen wie Beseitigung des Zölibats oder Frauenordination durchgesetzt, dennoch sagt Christian Weisner, der Sprecher der Reformbewegung: „Wir haben mehr erreicht, als wir je zu hoffen wagten. Im Kirchenrecht hat sich zwar nichts getan, wenn man aber in die Köpfe und Herzen der Menschen schaut, hat sich viel verändert.“ Die Missbrauchsfälle und die aufflammenden Debatten um Zölibat und Strukturreformen in der katholischen Kirche bescheren der Bewegung seit Monaten beachtlichen Aufwind.

Eva-Maria Kiklas von „Wir sind Kirche“ sagt: „Wir sind heute die kritische Stimme innerhalb der katholischen Kirche.“ Ihre Mitstreiter sehen sich mehr denn je in der Rolle, Debatten anzustoßen. Viele der 1995 postulierten Reformthemen würden nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch innerhalb der Kirchenhierarchie auf Zustimmung stoßen. Als Beispiel wird Bambergs Erzbischof Ludwig Schick genannt, der jetzt ein Nachdenken über den Zölibat anregte. Weisner freut sich, dass die Bewegung nun als kritische Stimme innerhalb und nicht gegen die Kirche verstanden werde.

„Wir sind Kirche“ kann auf fünfzehn ereignisreiche Jahre zurückblicken. Als die Missbrauchsdebatte 2002 aus den USA nach Deutschland schwappte, richtete „Wir sind Kirche“ ein Nottelefon für Opfer sexueller Gewalt in der Kirche ein. Für Annegret Laakmann, die von Anfang an dabei ist, eine der größten Erfolge der Bewegung. „Auf diesem Gebiet konnten wir Kompetenz erlangen. Seit 2002 haben wir über 400 Opfer begleitet.“

Laakmann hat Zeiten erlebt, in denen ihre Bewegung auf Kirchentagen als Sektierer betrachtet wurde. Heute, da die Anhängeschaft die Millionengrenze überschritten hat, fühlen sich viele in ihrem Engagement bestätigt. Schwierigkeiten bekundet die Bewegung allerdings noch immer damit, junge Mitstreiter zu gewinnen. Christian Weisners Begründung: „Wir sind nicht die ‚Generation Benedetto‘, wir sind die Generation Konzil.“

„Wir sind Kirche“ ist heute, auch international, vernetzt mit vielen anderen Reformgruppen. Vor allem mit der „Initiative Kirche von unten“, einer älteren katholischen Basisbewegung, ist sie eng verzahnt. In jüngster Zeit stoßen neue Kräfte hinzu, etwa die Initiative „Kirche in Bewegung“.

Die kritischen katholischen Christen sehen die Kirche einem massivem Druck zur Veränderung ausgesetzt – was ihre eigene Struktur, ihre Bedeutung in der Gesellschaft und die öffentliche Wahrnehmung betrifft. „Wir sind Kirche“-Engagierte betrachten ihre Aufgabe jetzt darin, diesen Prozess kritisch zu begleiten und die Resignation vieler Christen in positive Aktivität umzuwandeln. So heißt ihr Leitmotto gerade in der jetzigen Situation denn auch: „Auftreten statt austreten.“

URL: http://www.merkur.de/2010_20__Mehr_erreicht__a.42290.0.html

Zuletzt geändert am 19­.05.2010