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Veröffentlicht am 04­.02.2010

4.2.2010 - Hannoversche Allgemeine Zeitung

Missbrauch in der Kirche: Unter Generalverdacht.

Von Michael B. Berger

Sie konnten begeistern, sie zeigten Herz, sie hatten schnell Kontakt zu jungen Leuten und Sinn für Gerechtigkeit, etwa in der Dritten Welt. Ja, manche ließen sich sogar als „Sinnstifter“ feiern – Jesuitenpater, von denen man jetzt weiß, dass sie vor Jahrzehnten ausgerechnet diejenigen missbraucht haben, die ihnen anvertraut worden waren. Sie galten als Vorbilder und sind als arme Gestalten enttarnt worden, als „Kinderschänder“, wie man sie früher nannte. Jetzt herrscht Entsetzen. Warum? Warum ausgerechnet der, fragen sich Gemeindeglieder des „Guten Hirten“ in Hildesheim wie auch Schüler des Berliner Jesuitenkollegs, die nicht zu den Opfern zählten: Das kann doch nicht sein – der doch nicht? Wie konnte ausgerechnet der so etwas tun?

Mit einer gängigen Antwort kann man sich schnell einer Beantwortung dieser Frage entziehen. Sie lautet: Der Zölibat treibe eben Priester zu derartigen Untaten. Wenn man wie die katholische Kirche ihrem Klerus ein elementares Lebensrecht verweigere, das in unseren durcherotisierten Zeiten zum Lebensmittel geworden ist, dürfe man sich eben über gar nichts mehr wundern.

Nicht der Zölibat ist schuld

Vom Druck im Kessel, der kein Ventil habe, ist in diesem Zusammenhang dann die Rede. Und diejenigen, die ohnehin die Kirche für eines der größten Übel dieser Welt halten, fühlen sich in ihren Vorurteilen bestätigt. Aber so einfach ist es denn auch wieder nicht: Auch die Protestanten beklagen Missbräuche, auch in profanen, völlig unkirchlichen Bildungseinrichtungen finden sich immer wieder Menschen, die sich an anderen „versündigen“ (hier passt der alttestamentarische Begriff).

Doch trotz der Tatsache, dass auch verheiratete Männer, denen niemand ein Zölibat auferlegt hat, Kinder missbraucht haben, ja selbst vermeintlich glückliche Familienväter als Kinderschänder enttarnt worden sind, ist noch gar nichts erklärt, geschweige denn entschuldigt. Es schwächt nur das Argument, dass die vorgeschriebene Ehelosigkeit Priester geradezu in den Missbrauch treiben müsse. Es gibt andere, weit harmlosere, aber gute Gründe, den Pflichtzölibat abzuschaffen – doch das ist ein weites Feld.

Viel näher liegt eine andere „Warum?“-Frage, die die katholische Kirche gründlich klären muss. Warum hat sie vor zwanzig, dreißig, ja auch noch vor fünfzehn Jahren Männer einfach weiter wirken lassen, an deren Charakter ernste Zweifel bestanden? Weil nicht sein konnte, was nicht sein darf? Wie konnte es die Kirche zulassen, dass diese Kinderschänder neue Opfer fanden – in anderen Städten und Wirkungskreisen? Weil sie ihren eigenen Priestern mehr vertraute als den bangen Hinweisen von Müttern und Vätern? Weil die Kirche glaubte, dass letztlich doch Gras über eine „Sache“ wächst, die zu den schändlichsten Verbrechen zählt, weil sie so grausam das Vertrauen von Kindern oder Jugendlichen bricht? Gestern hat der Leiter des Berliner Canisius-Instituts einen Satz gesagt, den die Kirche ohne weitere Untersuchungen nicht stehen lassen kann, will sie nicht in einen Strudel von Gerüchten, ja auch Diffamierungen geraten. Dies sei „nur die Spitze eines Eisbergs“ hat der Jesuit Klaus Mertes gemeint. Woher nimmt der Gottesmann die Kraft zu dieser dunklen Prophetie? Aus dem Gefühl heraus, dass autoritäre Strukturen, ein überhöhtes Priesterbild und eine rigide Sexualmoral zu Fehlverhalten führen können, wie der Kirchenreformer und -kritiker Christian Weisner meint?

Schleichendes Gift

Keine Frage: Die katholischen Ordensleute, die sich einem besonders vorbildlichen Leben verschrieben haben und auch deshalb als besonders vorbildliche und engagierte Lehrer gelten, stehen seit einigen Tagen unter Generalverdacht. Von ihm können sie sich nur durch schonungslose Aufklärung befreien. Denn dieser Generalverdacht ist schleichendes Gift für eine Organisation, deren Grundkapital Vertrauen ist, die einen Credo-Kredit zu vergeben hat.

Die heute Verantwortlichen in der katholischen Kirche wissen dies, der Papst hat auf seiner USA-Reise mit Missbrauchsopfern gesprochen und Hilfen zugesagt, die Deutsche Bischofskonferenz hat vor acht Jahren in klaren Leitlinien festgehalten, dass die Fürsorge der Kirche zuallererst den Opfern gelte. Doch wenn der Satz mit der Spitze des Eisbergs zutrifft, geht es jetzt um eine breit angelegte Vergangenheitsbewältigung, wie sie etwa in der evangelischen Kirche beim Missbrauch von Heimkindern betrieben wird. Die Rede vom bedauerlichen Einzelfall hilft hier nicht weiter – selbst wenn sie stimmen sollte.

Zuletzt geändert am 05­.02.2010