3.2.2010 - Berliner Zeitung
Canisius-Kolleg. Neuer Missbrauchsfall: Pater suspendiert
Im Bemühen des Canisius-Kollegs um eine rückhaltlose Aufklärung der Missbrauchsfälle zeichnen sich Fortschritte ab. Gegenüber der als Mediatorin berufenen Anwältin Ursula Raue hat sich jetzt ein dritter ehemaliger Lehrer der katholischen Eliteschule offenbart und einen Fall von sexuellem Missbrauch zugegeben. Raue hatte den Mann mit Aussagen von drei Opfern konfrontiert, die sich jetzt gemeldet hatten. Das bestätigte gestern der Provinzial der Deutschen Provinz der Jesuiten, Stefan Dartmann. Er habe ihn aufgefordert, Selbstanzeige zu erstatten, was inzwischen geschehen sei. Der bereits beschuldigte ehemalige Lehrer Peter R. streitet nach wie vor alle Vorwürfe ab.
Der zweite geständige Jesuit, Wolfgang St., der bis heute dem Orden angehört, war von 1970 bis 1971 Religionslehrer am Canisius-Kolleg und von 1976 bis 1981 für den Orden als Lehrer und Jugendseelsorger in Berlin tätig. Gleiche Funktionen hatte der Mann in Hannover und Hamburg ausgefüllt, bevor er mehr als 20 Jahre Projektleiter eines anerkannten Hilfswerks war. Von diesem Posten ist er laut Dartmann gestern suspendiert worden.
Unterdessen zeichnet sich ab, dass die Hintergründe des Messerangriffs auf den damaligen Jesuitenpaters Peter R. 1986 in Göttingen wohl immer im Unklaren bleiben werden. Die Attacke, die ehemalige Mitschüler als Racheakt einem früheren Missbrauchsopfer aus R.s Zeit am Berliner Canisius-Kolleg zuschreiben, ist niemals polizeilich untersucht worden. Das geschah auf ausdrücklichen Wunsch von R., der nach seinem Weggang von dem Berliner Jesuitenkolleg 1982 im Bistum Hildesheim in der Jugendarbeit tätig war. Pater R. selbst hat den Hintergrund des Angriffs in der Göttinger Altstadt verschwiegen und als versuchten Raubüberfall dargestellt. Wie die Morgenpost erfuhr, war Pater R. 1986 im Büro einer Jugendeinrichtung der Jesuiten, die er damals leitete, offenbar mit einem Messer angegriffen und verletzt worden. Mit mehreren blutenden Wunden schleppte er sich zum nahen Büro der St.-Marien-Kirchgemeinde in der Turmstraße. Dort seien seine Wunden ambulant versorgt worden. Peter R. verhinderte, dass die Gemeindebediensteten die Polizei einschalteten. Eine damalige ehrenamtliche Mitarbeiterin der Gemeinde hat sich jetzt an den Zwischenfall erinnert. "R. wollte keine Polizei. Er sagte, der Angreifer wollte doch nur Geld." Eine Fahndung würde nichts bringen. Die Gemeindehelferin hatte den Vorfall zwischenzeitlich längst vergessen. Frühere Mitschüler berichten, der Angreifer habe einige Zeit nach der Attacke auf seinen Ex-Lehrer und Jugendleiter der "Gemeinschaft Christlichen Lebens" (GCL) Selbstmord begangen.
Dass es in diesem außerschulischen Jugendverband missbräuchliche Formen der Sexualpädagogik gab, wussten die Verantwortlichen am Canisius-Kolleg seit Mai 1981. Damals schrieben acht Abiturienten einen offenen Brief, in dem sie ihren Austritt aus der GCL erklärten und auf die möglichen schädlichen Folgen der Einzelsitzungen mit dem Leiter der GCL hinwiesen.
Dennoch gab es bei R.s Wechsel nach Niedersachsen seitens des Canisius-Kollegs offenbar keine Information über den Verdacht. "Bei der Einstellung war dem Bistum nichts über etwaige Verfehlungen des Priesters bekannt", erklärte gestern das Bistum Hildesheim, zu dem Göttingen gehört, und in dem R. bis zum Ruhestand 2003 mit kurzen Unterbrechungen gearbeitet hat.
In der Zwischenzeit tauchten weitere Missbrauchsvorwürfe auf. 1993 informierte eine Mutter den damaligen Bischof, R. habe ihre 14-jährige Tochter unsittlich berührt. Daraufhin sei R. die Jugendarbeit verboten worden. Dieses Verbot habe man aber nicht konsequent durchgehalten. 1997 wurden Pater R., der inzwischen aus dem Jesuitenorden ausgetreten und in den Dienst des Bistums gewechselt war, "Unregelmäßigkeiten in seiner Amtsführung sowie weitere sexuelle Belästigungen" vorgeworfen. R. wurde daraufhin aus der Hildesheimer Gemeinde nach Wolfsburg versetzt, eine Anzeige aber unterblieb. "Aus heutiger Sicht haben wir die Vorwürfe zu wenig ernst genommen und die Tragweite der weiteren Entwicklungen eindeutig unterschätzt", sagt dazu der damalige Bischof Josef Homeyer. "Ich bedaure dies zutiefst." Der offensive Umgang mit dem Missbrauch wird vom Vatikan unterstützt. Der Vatikan sehe die Bitte um Entschuldigung, wie sie der deutsche Jesuiten-Chef Stefan Dartmann in dem Missbrauchsskandal vorgebracht hat, als "umfassend" an, sagte Vatikan-Sprecher Pater Ciro Benedettini.
Auch der zweite geständige Täter vom Berliner Canisius-Kolleg, Wolfgang St., hatte nach seinem Wechsel zunächst in Hamburg, später in St. Blasien im Schwarzwald und in Südamerika weitere Jugendliche missbraucht. Die Jesuitenschulen kündigten gestern "umfassende Aufklärung" an. Die ökumenische Basisinitiative "Wir sind Kirche" rief unterdessen die katholische Kirche zu einer Neuausrichtung ihrer Sexuallehre auf. Inzwischen haben sich sechs frühere Missbrauchsopfer des Canisius-Kollegs zusammengetan, um ihre Rechte geltend zu machen. Sie haben das Mandat der Berliner Rechtsanwältin Manuela Groll übertragen. Es gehe ihnen vor allem um verbesserte Information und Transparenz seitens des Canisius-Kollegs, um ein Stück Genugtuung, weniger um Schadenersatz, so die Anwältin.
Zuletzt geändert am 04.02.2010