2.2.2010 - focus-online.de
Missbrauchsskandal: Mehr als ein paar schwarze Schafe
Von FOCUS-Online-Redakteur Florian Festl
Der Jesuitenpater Wolfgang S. war nach außen hin einer von der lockeren Sorte. Er unterrichtete nicht in Ordenstracht, gab sich kumpelhaft und unternahm Ausflüge mit seinen Schülern. Am Wochenende ging es vom Berliner Canisius-Kolleg gemeinsam an die Ostsee. Der Jesuit suchte die Nähe zu den Schülern aber nicht aus hehren pädagogischen Gründen, es waren perverse Phantasien, die ihn antrieben. S. verging sich systematisch an seinen Zöglingen und zwang sie zu schweigen, indem er harte schulische Konsequenzen androhte – bis zur Verbannung vom Kolleg. Von Züchtigungen, Schlägen auf den nackten Hintern und unangenehmen Annäherungen beim Duschen berichten die Opfer. Täglich melden sich neue Betroffene, täglich weitet sich der Missbrauchsskandal aus.
Missbrauch, Vertuschung und Verschweigen
Die Jesuiten in Deutschland befinden sich seit vergangener Woche auf der Flucht nach vorne. Der Orden war an die Öffentlichkeit gegangen, als sich zeigte, wie tief und vielschichtig der Morast aus Missbrauch, Vertuschung und Verschweigen ist. In einem Brief hatte sich der Rektor des Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes, bei 600 ehemaligen Schülern entschuldigt. Mit tiefer Erschütterung und Scham nehme er die entsetzlichen und nicht nur vereinzelten Übergriffe zur Kenntnis. Rund 20 Opfer meldeten sich allein in Berlin, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Rektor Mertes spricht Klartext: „Wichtiger als das Image der Schule ist die Wahrheit.“ Der Leiter des deutschen Jesuitenordens, Stefan Dartmann, senkt ebenso das Haupt vor den Opfern und entschuldigt sich – vor allem auch dafür, dass der Orden frühen Hinweisen nicht nachgegangen ist. Erstmals hatten sich 1981 Schüler über ihren widerlichen Lehrer beschwert.
Die entscheidende Frage
Wo auch immer Wolfgang S. unterrichtete, vergriff er sich an Kindern. Von 1975 bis 1979 lehrte er in Berlin, von 1979 bis 1982 an der Sankt-Ansgar-Schule in Hamburg, danach bis 1984 am Kolleg in St. Blasien im Schwarzwald. Warum warnten die Berliner Jesuiten nicht vor S., obwohl sie frühe Hinweise auf seine Neigungen hatten? „Das ist die Frage, die man den Jesuiten stellen muss“, sagt der Sprecher des Erzbistums Hamburg. Auch der Orden versucht Antworten darauf zu finden, die Versäumnisse im Nachhinein zu verstehen. Die ehemalige Vorsitzende der Kinderschutzorganisation „Innocence in Danger“, Ursula Raue, ermittelt im Auftrag der Jesuiten. Am Dienstag fuhr sie von Berlin nach München, um in der Zentrale des Ordens Akten zu sichten.
Gefahr des Generalverdachts
Der heute 65-jährige Pater Wolfgang S. verließ Deutschland im Jahr 1985, ließ aber auch in Spanien und Chile die Finger nicht von Kindern. Er ist kein Einzelfall. Der 69-jährige Jesuit Peter R., der in den 70er-Jahren Jugendseelsorger am Canisius-Kolleg war, steht ebenso unter Verdacht, Schüler geschändet zu haben. Nach seiner Berliner Zeit soll er sich in Göttingen und danach in Hildesheim an Mädchen vergangen haben. Auch hier schluderte die Kirche, erfuhr von den Übergriffen, nahm sie aber nicht ernst genug. 1993 wurde dem pädophilen Pater die Jugendarbeit verboten, doch niemand passte auf, dass R. nicht mehr in die Nähe von Kindern kam. Das Bistum Hildesheim gibt die Versäumnisse inzwischen zu.
Immer erst, wenn der Druck zu groß wird, nimmt die Kirche konkret Stellung. „Es geht um den guten Ruf, aber auch um die Finanzen“, erklärt Christian Weisner vom Reformbündnis „Wir sind Kirche“ im Gespräch mit FOCUS Online das beharrliche Schweigen. „In den USA gingen Diözesen Bankrott, als systematischer Missbrauch bekannt wurde.“ Der Katholik Weisner sieht die Gefahr eines Generalverdachts gegen Priester und Ordensleute, wenn das Thema Missbrauch nicht grundlegend angegangen wird. „Viele Eltern werden misstrauisch, schicken ihre Kinder nicht mehr in kirchliche Schulen, Ministrantengruppen oder in ein katholisches Zeltlager.“
„Strukturelles Problem“
Wolfgang S. und Peter R. sind keine vereinzelten schwarzen Schafe. So wie derzeit der Jesuiten-Orden in Deutschland bis in die Grundfesten erschüttert wird, erging es kürzlich der gesamten katholischen Kirche Irlands. St. Pölten, Köln, Riekofen – die Liste der Skandale ist lang. Für Weisner, dessen Organisation eine Aufhebung des Zölibats und eine Gleichberechtigung von Frauen in der Kirche fordert, liegt ein strukturelles Problem zugrunde. Er sieht eine rigide Sexualmoral, ein überhöhtes Priesterbild und zu autoritäre Strukturen als tiefere Ursache hinter den vielen Missbrauchsfällen.
„Sexualität wird in der Priesterausbildung tabuisiert“, bemängelt Weisner. Er kritisiert außerdem, dass die Kirche aufgrund des akuten Priestermangels zu ungenau prüfe, wen sie in ihre Dienste nehme. „Nur gereifte Persönlichkeiten dürfen eine Chance haben.“
Offiziell nimmt sich die Kirche des Problems der pädophilen Priester an, vor 50 Jahren verfasste der Vatikan erste Texte dazu, der Papst meldet sich tadelnd zu Wort, die Bischofskonferenz verabschiedete schon 2002 Leitlinien zum Umgang mit Missbrauch. Auch Ansprechpartner für Opfer wurden benannt. „Aber wer wendet sich schon an den Domkapitular oder einen Personalreferenten, um über beschämende Erlebnisse zu berichten?“, fragt Weisner. Er fordert Ansprechpartner für Opfer auf niedrigen Ebenen in den Kirchengemeinden. Die Betroffenen müssen Möglichkeiten zum Reden bekommen, bevor sie sich schweigend von der Kirche abwenden.
Oft dauert es Jahrzehnte, bis die Übergriffe bekannt werden. Nicht nur die Institution Kirche verdrängt die Taten gerne, auch viele Opfer schieben die Erlebnisse von sich, um sich selbst zu schützen. „Dass es sich um sexuellen Missbrauch handelt, da wäre ich damals im Leben nicht drauf gekommen“, sagt eines der Opfer von Wolfgang S. der „Berliner Zeitung“. Erst wenn sich der Schatten der Tat über das Gemüt der Opfer senkt und nicht mehr weichen will, wenn sich die schrecklichen Bilder nicht verflüchtigen, und oft nur mit Hilfe einer Therapie, können die Betroffenen über die Übergriffe reden. Und oft ist es dann schon zu spät, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt zwar jetzt im Missbrauchsskandal der Jesuiten, doch vieles spricht dafür, dass die Taten inzwischen verjährt sind.
URL: http://www.focus.de/panorama/welt/tid-17090/missbrauchsskandal-mehr-als-ein-paar-schwarze-schafe_aid_476512.html
Zuletzt geändert am 02.02.2010