7.11.2008 - Publik-Forum
Wenn Gott ganz nahe ist
Von Joachim Kügler
Von Jesus sind im Wesentlichen drei Formen prophetischer Zeichenhandlungen überliefert: Dämonenaustreibungen (Exorzismen), Krankenheilungen und Mahlzeiten »mit Sündern und Zöllnern«. Die historischen Erkenntnisse über diese Zeichenhandlungen Jesu stellen kritische Anfragen an die gewohnte kirchliche Sakramentenpraxis.
Für die Exorzismen haben wir eine Deutung, die auf Jesus selbst zurückgeführt werden kann. Diese wurde von der sogenannten Logienquelle überliefert und findet sich im 11. Kapitel des Lukasevangeliums (Vers 20, ebenso im Matthäusevangelium, Kapitel 12, 28): »Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen hinauswerfe, dann ist die Königsherrschaft Gottes zu euch gekommen.« Die Exorzismen - die in sich zweideutig sind, weil man auch mit widergöttlichen Kräften über Dämonen herrschen kann - werden von Jesus eindeutig mit der Gottesherrschaft in Verbindung gebracht und zum Zeichen ihrer Gegenwart erklärt.
Nun ist zu fragen, um welche Art von Zeichen es sich dabei handelt. Zeichentheoretisch sind performative (vollziehende) von nichtperformativen Zeichen zu unterscheiden. Ein nichtperformatives Zeichen ist zum Beispiel der Blinker am Auto: Er deutet einen Richtungswechsel an, ohne ihn zu vollziehen. Ein performatives Zeichen ist dagegen das Vorfahrtsschild, welches das Vorfahrtsrecht nicht nur andeutet, sondern es zugleich erteilt.
Wegen der besonders engen Verbindung zwischen Exorzismen und Gottesherrschaft sind die Dämonenaustreibungen Jesu als performative Zeichen der Königsherrschaft Gottes zu verstehen: Sie vollziehen diese zugleich. Da in der dogmatischen Tradition der Vollzugscharakter ein wesentliches Merkmal der Sakramente ist, kann man folglich die Exorzismen als Sakramente verstehen - nicht im kirchlich-dogmatischen Sinn, aber in einem erweiterten Sprachgebrauch sind sie als »Gottesherrschaft-Sakramente« zu bezeichnen. Sie deuten die Königsherrschaft Gottes nicht nur an, sondern vollziehen ihre heilsame Gegenwart!
Jesu Krankenheilungen und Mahlpraxis mit »Sündern und Zöllnern« sind ebenfalls als Vollzugszeichen zu verstehen. Wo Menschen von Krankheiten geheilt werden, ist die Königsherrschaft Gottes bei ihnen angekommen. Wo Menschen, die religiös und gesellschaftlich durch unüberwindliche Barrieren getrennt sind, miteinander essen und trinken können, da ist diese Königsherrschaft schon Wirklichkeit geworden. Da vollzieht sich jetzt schon das, was im 25. Kapitel des Jesaja-Buches für die endzeitliche Vollendung erwartet wird: »Und JHWH der Heerscharen wird auf diesem Berg allen Völkern ein Festmahl von üppigen Speisen bereiten, ein Festmahl mit alten Weinen, von üppigen, herzhaften Speisen, mit alten, geläuterten Weinen.«
Wenn Jesus sich mit Menschen einlässt, mit denen er eigentlich keine Mahlgemeinschaft haben dürfte, dann vollzieht sich dabei die Gegenwart Gottes bei seinem Volk. Da Gott als Bräutigam anwesend ist, kann nicht gefastet werden, vielmehr ist Feiern angesagt. Schon jetzt ist die Zeit für das endzeitliche Hochzeitsmahl!
Mein Lehrer Paul Hoffmann hat die Gegenwart der Gottesherrschaft als »punktuell und situativ« bezeichnet und damit auf eine Spannung aufmerksam gemacht, die für Jesus charakteristisch ist. Es geht um die Spannung zwischen Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft. Beide Aspekte nämlich finden sich in der ältesten Jesus-Tradition: das Bekenntnis zur Gegenwart der Königsherrschaft Gottes und die Hoffnung auf ihre zukünftige Vollendung. Jetzt ist die Königsherrschaft noch so klein wie ein »Senfkorn«, aber sie trägt das ungeheuere Potenzial in sich, »größer als alle Gartengewächse« zu werden.
Jesus gibt nicht der Versuchung nach, allein die Gegenwart der Gottesherrschaft schaft zu behaupten. Täte er dies, dann müsste er angesichts einer unheilen Welt das Heil der Gottesherrschaft als etwas rein Geistiges verstehen. Das ist die enthusiastische Versuchung, die später Paulus im ersten Korintherbrief bekämpft. Jesus gibt aber auch nicht der Versuchung nach, angesichts der Schlechtigkeit der Welt die Gottesherrschaft rein als etwas Zukünftiges zu verstehen. Das wäre die Versuchung des apokalyptischen Pessimismus, der leicht zur zynischen Vertröstung entartet.
Jesus hält vielmehr die spannungsreiche Mitte zwischen »doch schon« und »noch nicht«. Wenn der Philosoph Theodor W Adorno sagt, es gäbe »kein richtiges Leben im falschen«, so muss man mit Jesus widersprechen: Doch, es gibt ein richtiges Leben im falschen - zwar nur als Senfkorn, aber immerhin! Schon jetzt kann - bisweilen - das Böse besiegt werden. Schon jetzt können - bisweilen - Barrieren durch gemeinsames Essen niedergerissen werden. Schon jetzt können - bisweilen - Menschen Heil als Heilung erfahren.
Für Theorie und Praxis der kirchlichen Sakramente spielen die performativen Zeichenhandlungen Jesu selbst in der Regel keine Rolle. Zum einen deshalb, weil man ihren sakramentalen Charakter übersieht; zum anderen, weil man ihren grenzüberschreitenden Charakter nicht nachvollziehen kann. Man benutzt Sakramente lieber als abgrenzende Identity Marker, also zur Unterscheidung von kirchlichen Insidern und Außenseitern. Dabei wird leicht übersehen, dass die kirchlichen Sakramente ohne die Verbindung mit Lehre und Tun des historischen Jesus ein Eigenleben entwickeln, das mitunter geradezu unchristliche Haupt- und Nebenwirkungen zeitigt, während gleichzeitig der Glaube an ihre Heilswirkung schwindet.
Wenn zum Beispiel behauptet wird, man könne die eucharistische Mahlgemeinschaft zwischen den Kirchen prinzipiell erst nach Erreichen der vollen Glaubensgemeinschaft feiern, dann wird die Wirkung des Sakraments einfach durch den Vollzug geleugnet. Dann glaubt man nicht mehr daran, dass das Sakrament Einheit stiftet. Eine solche soziologistische Missinterpretation gesteht dem Sakrament nur noch zu, etwas vorher (auf anderem Wege) Erreichtes zu ratifizieren, aber nicht mehr, »punktuell und situativ« Heil feiernd zu wirken. Dagegen setzt die älteste JesusTradition andere Akzente: Die Mahlfeiern Jesu setzen nicht die endgültige Durchsetzung des Gottesreiches voraus, sondern feiern im Vorgriff auf die endzeitliche Vollendung. Sie vollziehen sich im SenfkornStatus des Gottesreiches.
Es geht nicht zuerst um Bestätigung vorhandener Einheit (wie bei den Regeln für koscheres Essen als Identity Marker), sondern um die zeitweilige Verwirklichung der universalen, endzeitlichen Einheit. Die Identität des Gottesvolkes wird nicht durch Abgrenzung erreicht, sondern durch programmatische Grenzüberschreitung.
Die Teilnahme am Mahl Jesu muss deshalb nicht unbedingt erst am Ende eines abgeschlossenen Umkehrprozesses stehen, sondern kann auch zum Beginn der Umkehr aufrufen. Deshalb sind Zulassungsbedingungen zum Abendmahl im Ansatz verfehlt. Alle sind eingeladen, weil die Universalität der Liebe Gottes alle Menschen beruft, zu seinem Volk zu gehören. Wer diese Berufung annimmt, bekennt sich als Sünder und Sünderin, der oder die Gottes heilsame Liebe nötig hat, und behauptet gerade nicht, ein gerechter Mensch zu sein, der sich das Sakrament durch rechten Glauben und richtiges Handeln verdient hat. Gefährdet sind nur die unheilbar Gesunden; jene, die meinen, den Arzt Jesus mit seiner Liebe-Umkehr-Botschaft nicht nötig zu haben. Jene schließen sich selbst aus, denn er ist »nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder«.
Joachim Kügler
geboren 1958, ist katholischer Professor für Neutestamentliche Wissenschaften an der Universität Bamberg.
Zuletzt geändert am 12.11.2008