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Veröffentlicht am 08­.11.2025

8.11.2025 - publik-forum.de

30 Jahre »Wir sind Kirche« Lob der katholischen Schwarmintelligenz

Zum Glück lag ich vor 30 Jahren voll daneben – und das »Kirchenvolksbegehren« wurde ein schier unglaublicher Erfolg. Den Geist des freien und engagierten Christentums braucht es heute mehr denn je.
von Matthias Drobinski vom 08.11.2025
 
Zum Glück lag ich vor 30 Jahren voll daneben – und das »Kirchenvolksbegehren« wurde ein schier unglaublicher Erfolg. Den Geist des freien und engagierten Christentums braucht es heute mehr denn je. von Matthias Drobinski vom 08.11.2025

»Wir sind Kirche«-Sprecher Christian Weisner um Unterschriften für das »Kirchenvolksbegehren« (Foto: pa/dpa)

Kann das Erfolg haben, ein Kirchenvolksbegehren? Eine Unterschriftensammlung für mehr Mitwirkung des Gottesvolkes und weniger klerikale Macht, für den Zugang von Frauen zum Weiheamt und das Ende des Zwangszölibats, überhaupt, dass die katholische Kirche die Frohe Botschaft Jesu verkündet und nicht mehr latent mit der Hölle droht?

Dieser Text stammt von der Webseite https://www.publik-forum.de/religion-kirchen/lob-der-katholischen-schwarmintelligenz des Internetauftritts von Publik-Forum

 

Vollständiger Text:

Ich weiß noch, wie wir 1995 in der Redaktion von Publik-Forum diskutierten: Kann das Erfolg haben, ein Kirchenvolksbegehren? Eine Unterschriftensammlung für mehr Mitwirkung des Gottesvolkes und weniger klerikale Macht, für den Zugang von Frauen zum Weiheamt und das Ende des Zwangszölibats, überhaupt, dass die katholische Kirche die Frohe Botschaft Jesu verkündet und nicht mehr latent mit der Hölle droht?

Harald Pawlowski, der Chefredakteur, war begeistert vom Erfolg des österreichischen Kichenvolksbegehrens – mehr als eine halbe Million Menschen hatten unterschrieben, das Land war in Aufruhr, die katholische Kirche des Landes erst recht. Das müsste doch auch in Deutschland funktionieren, sagte er. Ich weiß noch, wie seine Augen leuchteten. Da kam Bewegung in seine Kirche, die er liebte und an der er litt, in ihrer Erstarrung unter Papst Johannes Paul II. Da passierte etwas Außerordentliches.

Ich, der Jungredakteur, war skeptisch. Deutschland ist nicht Österreich, argumentierte ich. Ganz Österreich empörte sich über den konservativen Kardinal Hermann Groer, einem offensichtlichen Missbrauchstäter. Doch wer redete in Deutschland über Missbrauch? Was im kleinen Österreich wie ein Lauffeuer von Gemeinde zu Gemeinde gegangen war, würde im großen Deutschland nicht zünden, sagte ich.

Zum Glück war damals Harald Pawlowski Chefredakteur und nicht ich. Zum Glück hatte er recht, und ich lag arg daneben. So wurde Publik-Forum zur Unterstützerin und Treiberin des Kirchenvolksbegehrens. 1,8 Millionen Menschen hatten am Ende unterschrieben. Noch bevor das Internetzeitalter begann, zeigte sich hier die katholische Schwarmintelligenz, zeigten so viele Menschen wie vorher und nachher nicht mehr, dass sie Reformen in ihrer Kirche wünschten, dass sie von einer menschlichen und menschennahen Kirche träumten, an der Seite der Armen und Schwachen.

Was wohl gewesen wäre, hätten die Bischöfe in Österreich und Deutschland – und auch Teile des Laienkatholizismus - nicht mit Abwehr und Beschwichtigung reagiert, mit dem mal ängstlichen und mal aggressiven Ausschluss-Satz: „Die sind ja gar nicht katholisch“? Wenn sie schon damals, 1995, das Thema sexualisierte Gewalt ernst genommen hätten? Wenn sie das Gespräch gesucht hätten über Macht, Sexualität, Frauen- und Priesterrollen? Es hätte weniger verlorene Jahre für diese Kirche gegeben, weniger Menschen, die ihr enttäuscht und auch bitter den Rücken gekehrt hätten. Und: vielleicht auch weniger Missbrauchsopfer. Es brauchte erst den Skandal, der 2010 mit voller Wucht über die katholische Kirche hereinbrach, es brauchte den tiefen Fall, um die Themen von „Wir sind Kirche“ auf die offizielle Agenda der katholischen Kirche in Deutschland zu setzen – und sogar der Weltkirche.

„Wir sind Kirche“ hat viel dazu beigetragen, dass es den „Synodalen Weg“ gegeben hat, den Bischofskonferenz und ZdK gingen (und manchmal auch stolperten). Selbst im römischen Synodale Prozess lässt sich ein bisschen „Wir sind Kirche“ erspüren: Der Gedanke, dass das Volk Gottes keine zu disziplinierende Masse ist, sondern Trägerin des Glaubenssinns und Teil des Lehramts, ist bei den Päpsten Franziskus und Leo XIV. angekommen.

Der Erfolg der Kirchenvolksbewegung ist heute auch ihr Problem: Was 1995 noch unerhört erschien, ist heute Teil der allgemeinen innerkirchlichen Debatte, zumindest in deutschsprachigen, im westeuropäischen Raum; „Wir sind Kirche“ hat das Alleinstellungsmerkmal verloren, das die Bewegung vor 30 Jahren noch hatte. Die beharrlichen Reformerinnen und Reformer sind älter geworden, manche von ihnen haben sich abgewandt, weil sie es nicht mehr ertrugen, zu beharren und weiter zu beharren. Die Jüngeren, gerade die Frauen, sehen wenig Sinn darin, mühsam schwer veränderbare Strukturen wenigstens ein bisschen zu verändern – sie haben andere Möglichkeiten, Sinn zu finden und sinnvoll zu leben. Traditionsabbruch und Säkularisierung treffen auch „Wir sind Kirche“. Und der Aufstieg des identitären Christentums nicht nur in den USA bringt ganz neue Fragen und Auseinandersetzungen mit sich, von denen man vor 30 Jahren sich nicht hätte vorstellen können, dass es sie noch einmal geben würde.

Wird es in 30 Jahren noch „Wir sind Kirche“ geben? Oder Publik-Forum? Wer weiß. Ich denke mir: Wir sollen unser Bestes tun, dass es in 30 Jahren noch beides gibt – garantieren können wir das nicht. Der Geist aber, dem „Wir sind Kirche“ Flügel verliehen hat, der wird bleiben. Herzlichen Glückwunsch!

 

 

Zuletzt geändert am 09­.11.2025