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Veröffentlicht am 25­.05.2022

25.5.2022 - zeit.de

Reformen in der katholischen Kirche: "Der Zölibat kann problemlos weg!"

Diese Woche ist in Stuttgart Katholikentag. Der Theologe Hermann Häring streitet seit einem halben Jahrhundert für Reformen. Wovor hat seine Kirche solche Angst? Ein Gespräch über Veränderung, sein Leben als Jesuit und seine Heirat
...
Das Interview führte Evelyn Finger. Hermann Häring ist beim Katholikentag in Stuttgart drei Mal zu erleben: am Freitag, 14 Uhr, im Haus der Wirtschaft, und um 16 Uhr im Zelt von »Wir sind Kirche«. Am Sonntag predigt er in der Bonhoeffer-Gemeinde in Stuttgart-Weilimdorf
 
 

Das Interview ist in der aktuellen ZEIT an jedem Kiosk und auch im Internet zu finden: https://www.zeit.de/2022/22/reformen-katholische-kirche-hermann-haering

DIE ZEIT: Herr Häring, wir führen dieses Ge
spräch am Sonntagvormittag. Wären Sie jetzt nor
malerweise in der Kirche?
Hermann Häring: Nein. Ich habe mir das ab
gewöhnt. Es war ein schmerzlicher Prozess, weil ich
hier in Tübingen oft frustrierter aus dem Gottes
dienst kam, als ich hineinging. Da ich viel reise,
gehe ich gern anderswo zur Kirche, zum Beispiel in
HamburgBlankenese, und bin daher nicht religiös
unterernährt. Aber hier zu Hause fühlte sich der
Gottesdienst ausgedorrt an.
ZEIT: Bitte erklären Sie uns, warum. Weil zu we
nige Leute kamen?
Häring: Nein, wegen der traditionellen Ausrich
tung. Die offiziellen Gebete und Lesungen, die
Vorbereitung der Liturgie bis ins letzte Wort sind
nicht meine Sache. Es gibt in Deutschland noch
immer eine heilige Scheu, vom Plan abzuweichen.
Nicht dass ich die Tradition nicht schön finde,
aber der Sonntag kann auch zum Trott werden.
ZEIT: Was genau fehlt Ihnen da?
Häring: Die Konfrontation mit der Wirklichkeit.
Der Kontrast zwischen der biblischen Vision und
dem Jetzt. Hinzu kommt, dass unsere katholische
Kirche zu viel Nabelschau betreibt. Ich weiß nicht,
ob das in der evangelischen Kirche besser ist. Aber
bei uns denkt man: Wenn es der Kirche gut geht,
steht es auch gut um den Glauben. Ein Irrtum!
Der Kirche geht es schlecht, weil sie sich selber
therapiert und den Kontakt zur Welt verliert.
ZEIT: Sind es nicht gerade Reformkatholiken, die
ihre Kirche therapieren wollen?
Häring: Auch. Aber mich stört der konservative
katholische Narzissmus. In der Ära Ratzinger wur
de das Sakrament wieder zum Leitbegriff unserer
Kirche. Nicht im Wort, sondern in der Eucharis
tiefeier soll sie bei sich sein. Wir wollen das heilige
Erlebnis, nicht das profane Leben.
ZEIT: Manche würden sagen, darum geht es.
Häring: Eben nicht! Wir flüchten uns in die
Magie, statt den Leuten zu sagen, worum es uns
geht. Das Ergebnis ist eine innere Leere – die sich
nicht therapieren lässt.
ZEIT: Was hilft stattdessen?
Häring: Die Fragen der Leute aufzugreifen, statt
über ihre Köpfe hinweg zu predigen. Bei manchen
Priestern denke ich: Mann, merkst du nicht, dass
drei Viertel der Leute, die hier sitzen, nichts ver
stehen?! Dieses Abgehobensein finde ich tödlich.
ZEIT: Nun ist die Zahl der Kirchenmitglieder in
Deutschland unter 50 Prozent der Bevölkerung
gefallen. Zugleich scheint die Zahl der Reform
willigen größer denn je. Beim Katholikentag in
Stuttgart wird ein Besucheransturm erwartet. Wie
passt das zusammen?
Häring: Die Suche nach Orientierung ist dring
licher geworden. An der Entkirchlichung sehen
wir nur, dass traditionelle Formen von Religiosität
nicht mehr so attraktiv sind. Beim Katholikentag
geht es wie beim evangelischen Kirchentag um
Sinnfragen – und man trifft Gleichgesinnte. Auch
stellen sich Priester und Bischöfe der Kritik.
ZEIT: Warum gehen die Reformen nicht voran?
Häring: Sie müssen unterscheiden zwischen einer
Amtskirche, die von den Bischöfen repräsentiert
wird, und einer Kirchenbasis, die immer unabhän
giger denkt von Rom. Ich finde allerdings, der
Synodale Weg ...
ZEIT: ... das Reformprojekt der Deutschen Bi
schofskonferenz zusammen mit den Laien ...
Häring: ... ist nicht mutig genug. Da werden For
derungen wie Frauenpriestertum und Segnung
Homosexueller nicht klar gestellt. Und der ganze
Synodale Weg kann scheitern, wenn die Mehrheit
der Bischöfe ihn blockiert oder auch der Vatikan.
ZEIT: Es gibt neben der kirchlichen Frauenbewe
gung Maria 2.0 jetzt auch die Initiative #OutIn
Church. Was würde passieren, wenn die Pfarrer
den ewigen Streit um die Segnung homosexueller
Paare beenden – und es einfach tun?
Häring: Ich vermute, es würde gar nichts passie
ren. Denn unsere Bischöfe wissen genau, dass sie
da gegen eine Mauer der öffentlichen Meinung
rennen und sich nicht mehr durchsetzen können.
Trotzdem wagen viele Pfarrer es nicht.
ZEIT: In Reformkreisen wird die Kritik an Papst
Franziskus immer lauter, er sei in Wahrheit kein
Reformer. Zum Beleg führt man an, dass er deut
sche Reformforderungen nicht absegnet. Ist es
nicht ziemlich feige, am Ende alles einem alten
Herrn in Rom in die Schuhe zu schieben?
Häring: Allerdings. Die Deutschen sind zu auto
ritätshörig. Sie scheuen die offene Konfrontation
und fürchten die von den Konservativen be
schworene Spaltung – statt zu sagen: Wir Erneue-

rer sind keine Spalter, sondern die, die in ihrem
Starrsinn verharren! Selbst die Papiere des Syno
dalen Weges sind in einer einschläfernden Spra
che der Versöhnlichkeit verfasst. Wir sind ein zu
harmoniesüchtiger Laden. Mir wäre es lieber, wir
würden mal in zornigen Worten erklären, worum
es geht!
ZEIT: Apropos Zorn. Sie studierten in den Sechzi
gerjahren in Tübingen bei Joseph Ratzinger und
waren später mit Hans Küng befreundet, der seine
kirchliche Lehrerlaubnis verlor. Im Jahr 2000 kri
tisierten Sie Ratzingers Theologie, sie sei »zu Beton
erstarrt«. Wie geht es Ihnen damit, dass schon Ihr
ganzes Leben lang über die Erneuerung Ihrer Kirche
gestritten wird?
Häring: Im Grunde bin ich wütend. Ich habe es
vor mir selber lange nicht zugegeben, denn ich
konnte die Wut gut kanalisieren. Mein Glück war,
dass ich Hans Küng kennenlernte und mit ihm ar
beiten durfte. In den Sechzigern in Tübingen
dachten wir, die gestrengen Bischöfe sterben bald
weg. Doch als Küng seine Lehrerlaubnis verlor,
wurde mir die dunkle Seite unseres Kirchenappa
rates klar. Heute glaube ich: Dort, wo nur noch
ein Horizont ist, taucht das Göttliche auf, nicht
dort, wo man erklärt, wie Heil geschieht.
ZEIT: Sie haben 25 Jahre lang in den Niederlanden
als Professor gelehrt.
Häring: Ich habe in einer reformwilligen Blase ge
lebt. Wie wenig sich änderte, ging mir erst auf, als
Hans Küng zu Lebzeiten nicht mehr rehabilitiert
wurde. Das frustrierte mich: Meine Kirche will es
nicht kapieren. Sie meint, ihre Lehre, die sie zeitlos
nennt, bleibt zu allen Zeiten dieselbe.
ZEIT: Haben Sie je überlegt auszutreten?
Häring: Nie! Die Freude tue ich den Herren da
oben nicht an. Meine Kirche ist meine Heimat.
Aber ich verstehe jeden, der austritt. Nach über
50 Jahren des reaktionären Festhaltens an alten
Gewissheiten reicht es auch treuen Katholiken.
ZEIT: Nun haben Katholiken auf anderen Konti
nenten andere Sorgen als die in Deutschland. In
Nigeria gab es gerade wieder furchtbare Morde.
Häring: Wir dürfen uns nicht anmaßen, Reform
wünsche für die ganze Welt zu formulieren. Aber
wir sollten unsere Reformstrategie darauf bauen,
dass es eine katholische Pluralität gibt.
ZEIT: Warum fällt der Kirche Veränderung so
schwer? Liegt es an ihrem Alter? Ihrer Größe?
Häring: Nein, an ihrem Menschenbild! Die Lehre
von der Erbsünde, diese brutale Idee, jeder Mensch
sei schon vor seinem ersten Atemzug schuldig und
die Menschheit eine verdammte Masse von Sün
dern, macht uns Angst. Und sie untergräbt unse
ren Mut zur Veränderung. Zwar propagiert die
moderne Theologie die Erbsünde nicht mehr, aber
in der Liturgie geht es immer noch um Schuld und
Verderben. Denken Sie nur an das rituelle Schuld
bekenntnis! Martin Luther hat zwar durch seine
Rechtfertigungslehre dieses negative Menschen-

bild abgemildert. Aber auch für ihn gelten wir
Menschen noch als nichtswürdig.
ZEIT: Glauben Sie, dass die Christen im Westen
das heute noch so genau wissen?
Häring: Vielleicht nicht, aber in den großen
Kirchenliedern und zum Beispiel in den Oratorien
von Johann Sebastian Bach ist es präsent. Ich
finde, dass auch die bischöflichen Warnungen vor
dem »Zeitgeist« ein tiefes Misstrauen ausdrücken
gegenüber den Menschen, wie sie nun einmal
sind. Nach dem Motto: Nur wir wissen, wie
schlecht es um die Menschheit steht. Dieser An
spruch, die Welt zu belehren, ist höchst ungehörig.
Tatsächlich kann jeder Mensch nach dem Wahren
und Guten streben. Wir müssen aufhören, so zu
tun, als gäbe es außerhalb der Kirche kein Heil.
ZEIT: Ist das negative Menschenbild, von dem Sie
sprechen, dieses Niedermoralisieren, wirklich ein
Vorrecht der Kirchen und der Konservativen?
Häring: Nein. Da prägt das christliche Erbe unsere
ganze christliche Kultur. Aber mit dem Verdam
mungsfuror, den wir seit Augustinus pflegen, sollte
allmählich Schluss sein. Augustinus war ja ein
genialer Theologe und hat es der Kirche ermög
licht, sich als Heilsbringerin zu präsentieren. Aber
sein Masochismus tut uns nicht gut.
ZEIT: Wie war die Kirche Ihrer Kindheit?
Häring: Ich bin in einem katholischen Dorf groß
geworden, das umgeben war von lauter evangeli
schen Dörfern, das hat unser Selbstbewusstsein
erhöht. In unserer ChristKönigsKirche gab es ein
Glasfenster vom Boden bis zur Decke, in expres
sionistischen Farben glühend, wenn die Sonne
schien. An besonderen Feiertagen war es brechend
voll, erst marschierten die Mädchen ein, dann
kamen Fahnen schwenkend die Jungen. Wir
schmetterten: »Christus, mein König, nur dirallein
/ schwör ich in Liebe lilienrein / bis in den Tod die
Treue.« Nach dem Krieg hatten wir die Vision, im
Königtum Christi würde sich Europa erneuern.
ZEIT: Und Sie wurden Jesuit!
Häring: Auf dem katholischen Internat fühlte ich
mich so wohl, dass ich nach dem Abitur in den
Jesuitenorden eintrat und acht Jahre blieb. Aber als
ich in Frankfurt die Auschwitzprozesse besuchte
und begriff, dass meine Kirche nicht protestiert
hatte gegen den Judenmord, wollte ich raus aus
dem Orden.
ZEIT: Später haben Sie geheiratet.
Häring: Ja, ich hatte meine Frau kennengelernt,
mit der ich heute noch zusammen bin. Sie war,
ehrlich gesagt, der erste Anstoß, den Orden zu ver
lassen. Ich hatte mich heftig in sie verliebt.
ZEIT: Wie schwer war es, kein Jesuit mehr zu sein?
Häring: Sehr schwer! Das Verlassen des Ordens
empfand ich als schmerzhaften Einschnitt. Ich ver
lor ein Zuhause, wo nicht nur christliche, auch
weltliche Philosophie studiert wurde, Religions
kritik, Atheismus. Es gab eine innere Offenheit.
Gescheitert bin ich an den asketischen Anforde
rungen. Nicht nur am Zölibat, auch am Zwang
zur Selbstbeobachtung. Durch meine Frau merkte
ich, es gibt noch ein anderes, freieres Leben.
ZEIT: Wer half Ihnen bei der Entscheidung?
Häring: Fromme Leute, die mich lehrten, man
kann ein guter Christ bleiben, wenn man seinen
Orden verlässt. Mir half, was vielleicht auch meiner
Kirche helfen würde: sich nicht nur mit dem eige
nen Innern befassen! Dahin gehen, wo Not am
Mann, Not an der Frau ist. Sich selber vergessen.
ZEIT: Was denken Sie heute über den Zölibat?
Häring: Der Pflichtzölibat kann problemlos weg!
Er ist nur deshalb so ein Zankapfel, weil das
Priestertum als heilig gilt und Sexualität als das
Gegenteil. Ein primitiver Gedanke! Zumal Frauen
von dieser Art Sakralität ausgeschlossen sind. Wer
zölibatär leben will, darf das ja weiterhin tun.
ZEIT: Nun hat die evangelische Kirche weibliche
Pfarrer und Bischöfe. Trotzdem schrumpft sie.
Häring: Beide Kirchen müssen ihr Menschenbild,
ihr Gottesbild überprüfen. Dennoch wünsche ich
mir als Katholik, dass wir aufhören, uns über uns
selbst zu belügen. Viele Gemeinden verurteilen
ihren Pfarrer keineswegs, wohl wissend, dass er
heimlich eine Partnerin oder einen Partner hat. Ich
hoffe, dass endlich einmal ein Bischof den Mut
hat, zuzugeben, dass auch er nicht als Heiliger lebt.
 

Das Interview führte Evelyn Finger
 

Hermann Häring ist beim Katholikentag in
Stuttgart drei Mal zu erleben: am Freitag, 14 Uhr,
im Haus der Wirtschaft, und um 16 Uhr im Zelt
von »Wir sind Kirche«. Am Sonntag predigt er in
der Bonhoeffer Gemeinde in Stuttgart Weilimdorf

Zuletzt geändert am 31­.05.2022