19. April 2006 - www.stern.de
Benedikt XVI.: Vom "Rottweiler" zum Leisetreter
Der ruhige, professoral wirkende Benedikt hat seit seiner Wahl am 19. April 2005 der Welt die sanfte Seite des Mannes gezeigt, der zuvor fast ein Vierteljahrhundert lang oberster Glaubenshüter der römisch-katholischen Kirche war und dabei eine erzkonservative Auslegung der kirchlichen Dogmen verfolgt hat. "Es wurde ein strenger Schulmeister erwartet, der drohend seinen Zeigefinger hebt und einem mit dem Rohrstock auf die Finger schlägt", sagt der Jesuit Tom Reese, Theologe an der Universität in Georgetown. Aber der Papst habe überrascht als ein "lächelnder, pastoral auftretender Mann mit wehendem weißen Haar, der sehr charmant sein kann". So erlebten ihn beispielsweise Millionen von Menschen wenige Wochen nach seiner Wahl bei seinem Auftritt am Kölner Weltjugendtag.
Selbst der liberale Theologe Hans Küng, dessen harsche Kritik an Ratzingers Glaubenslehre zu dessen Ruf als Großinquisitor beitrug, ist vom ersten Jahr des Deutschen an der Spitze der katholischen Kirche angetan. "Bislang haben sich die schlimmsten Befürchtungen nicht bestätigt", sagt der ehemalige Tübinger Hochschullehrer. "Er hat einen anderen Stil gefunden."
Nachdem sich Benedikt offensichtlich zu Beginn seiner Amtszeit im Rampenlicht unwohl fühlte, zeigt sich inzwischen, dass ihm seine neue Position durchaus behagt. Der 79-Jährige signalisiert, dass er das Amt auf seine eigene Art verkörpern will. Trotz der großen Ehrerbietung für den charismatischen Johannes Paul II., dem Benedikt zu einer schnellen Heiligsprechung verhelfen möchte, hat der Deutsche seine betont ruhige Art beibehalten. Er vermeidet es, seinen äußerst populären Vorgänger zu kopieren. "Benedikt ist ein Mann, der keine Balkone und Menschenansammlungen mag", sagte der Kirchenexperte Vittorio Messori.
Warten auf Reformen
Kritiker warfen Johannes Paul vor, sich mehr um die Probleme der Welt als um die der römisch-katholischen Kirche gekümmert zu haben. An den Neuen im Amt richtete sich daher die Erwartung, Reformen innerhalb der rund 2000 Jahre alten Institution in die Wege zu leiten, beispielsweise in der Kurie, dem gewaltigen Apparat der kirchlichen Verwaltung. Bislang hat Benedikt hier allerdings nur wenig Gravierendes geändert.
So hat er mit seiner Entscheidung, den ehemaligen Erzbischof von San Francisco, William Levada, zu seinem Nachfolger als obersten Glaubenshüter zu machen, viele Konservative enttäuscht. Sie kritisieren, dass Levada zuvor eine zu laxe Haltung gegenüber der großen homosexuellen Gemeinde dieser Stadt eingenommen habe.
Anders als sein Vorgänger in seiner gesamten Amtszeit ist Benedikt in seinem ersten Jahr auch gezielt auf Liberale und Traditionalisten innerhalb der Kirche zugegangen. So lud er den Theologen Küng zu sich ein, der trotz Lehrverbots katholischer Priester geblieben ist. Das vierstündige Gespräch war eine Sensation.
Laienorganisationen wie die amtskritische Kirchenvolksbewegung warten aber immer noch darauf, dass der deutsche Papst wie angeboten den Dialog aufnimmt. Es gebe trotz "einiger positiver Signale" schwerwiegende Defizite, die ernsthafte Sorgen machten, sagt Christian Weisner, Sprecher von "Wir sind kirche". Die Reformbewegung habe aufmerksam registriert, wie Benedikt scharfe Kritiker von Empfängnisverhütung fördere und das Thema Frauen in der Kirche klein halte - Themen, die die Katholiken gerade in Deutschland stark umtreiben.
"Die Rolle hat sich verändert, nicht der Mensch" Küng glaubt nicht, dass sich der Bayer durch die Wahl zum Papst grundlegend geändert habe. "Es gibt keine zwei Ratzingers", sagt der Theologe. "Er ist dieselbe Person geblieben. Aber er hat seine Rolle verändert." Ratzinger müsse nun nicht mehr die Lehre der Kirche kontrollieren und ihre Lehrpersonen zensieren. "Jetzt ist er für die Verbreitung der christlichen Botschaft in der Kirche und in der Welt verantwortlich. Um das zu leisten, muss er inspirierend, kommunikativ und verständnisvoll sein." Im ersten Jahr seiner Amtsführung habe Benedikt die Dinge aufmerksam beobachtet, sagt Küng. "Ich hoffe, dass er nun im zweiten Jahr mit Reformen voranschreitet."
Der Papst-Historiker Reese mahnt zur Geduld. "Einer der Fehler, die mit Blick auf einen neuen Papst gemacht werden, ist der, dass die Leute glauben, er würde wie ein neuer Präsident agieren und die ersten 100 Tage Amtszeit seien dramatisch. Päpste machen das aber nicht."
Philip Pullella/Reuters
Zuletzt geändert am 09.05.2006