Prof. Dr. Michael Albus: Wachet auf, ruft uns die Stimme. Der Virus und die Religion
Vorabdruck für die nächste Nummer von "derPilger MAGAZIN", Speyer, Herbst 2020 mit freundlicher Genehmigung des Autors
Außerdem sagte Jesus zu der Volksmenge: Wenn ihr im Westen eine Wolke aufsteigen seht, sagt ihr sofort: Es gibt Regen. Und so geschieht es. Und wenn der Südwind weht, sagt ihr: Es wird heiß. Und es geschieht. Ihr Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels wisst ihr zu deuten. Warum könnt ihr dann diese Zeit der Entscheidung nicht deuten?
So steht es im Lukasevangelium. Gegen Ende des 12. Kapitels. Und Corona ist eine Zeit der Entscheidung. Oder etwa nicht? – Wissen wir sie zu deuten? Im Licht der Religion? Oder in ihrer Dunkelheit?
Die Verschwörungstheorien, das Weltuntergangsgerede lasse ich ‚außen vor‘. Sie sind Zeichen einer panischen Angst. Angst kommt von Enge. Sie ist mit im Spiel. Keine Frage. Aber ich lasse mich nicht von ihr lähmen. Höchstens warnen.
Und aufwecken. Wach auf! - ruft mich die Stimme. Wachet auf! - ruft uns die Stimme.
Für mich ist Corona ein Enthüllungsvirus, der den Schleier einer
glänzenden Oberflächenwohlstandswelt wegreißt. Und zeigt, sichtbar macht, was darunter ist, schon lange.
Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich überall höre, dass „wir“ so schnell wie möglich zur gewohnten Normalität zurückkehren müssen, sollen, wollen. „Sehnsucht nach Normalität“ hat, zum Beispiel, die Autobranche. Was war, was ist, was soll sie sein, die ‚gewohnte Normalität‘? Was ist unsere Lebens- Norm geworden im Laufe der Wohlstandslebenwunderjahre? Das frage ich auch mich, ganz persönlich. Jeden Tag und jede Nacht, wenn ich nicht schlafen kann. Ein Rezept für alle gibt es nicht. Aber sicher ist: Wenn ich mich nicht ändere, ändert sich nichts.
Ich kann in diesem Text nicht alles nennen, was zum Thema gehört. Ich kann nicht alles bedenken. Ich spüre und habe Grenzen. Ich bin Grenze. Individuum. Unteilbares.
Als Corona sich offen zeigte, fing ich an, mir Notizen zu machen, eine Art Corona-Tage- und Nächtebuch. Ich schrieb, anscheinend völlig wahllos, Wörter und Sätze auf, Gedankenblitze, Eingebungen. Eingebungen? Von wem oder was ein-gegeben? – Ein paar will ich nennen: Chaos und Ordnung, Globalisierung, Kaufen und Verkaufen, Gewinne machen. Reisen. Schnelligkeit, Neid und Gier, zwei von den sieben Todsünden, Nahrung, Kleidung, Geld, Hochmut kommt vor dem Fall, Zeit, End-Zeit, Macht und Herrschaft, Populismus, Nähe und Distanz, und so weiter. Am Ende stand auch ‚Religion‘ - mit Fragezeichen.
Wohlgemerkt: Wenn ich Religion in den Zusammenhang mit Corona bringe, dann meine ich ausdrücklich nicht ‚Kirche‘. Sorry! – ‚Kirche‘ war und ist ‚weg vom Fenster‘. Wir haben unser Geschäft bis auf weiteres geschlossen. Sicher auch aus ein paar vernünftigen Gründen. Das will ich gerne einräumen. Aber auch behaupten: Wenn mit Corona – ein ‚Nach-Corona‘ wird es nicht geben - das schlimmste vorbei ist, dann wird sichtbar werden, enthüllt sein, was die gegenwärtigen Kirchen in ihrer institutionellen Gestalt sind: Verzichtbar. Weil nur mit sich selbst beschäftigt. Auf’s Über-Leben reduziert. Nicht aggressiv gemeint, eher traurig und enttäuscht: Geld ist das achte, das Haupt-Sakrament geworden. Auch schon lange. Es gibt aber noch Christinnen und Christen, ich kenne solche, die Jesus nicht verraten, sondern ihm still und konkret nachfolgen. Zum Beispiel in Pflegeberufen oder durch andere Dienst-Leistungen. Ohne die Kirchenfahne herauszuhängen. Die Institution hält nicht viel von ihnen. Wer nur auf sich selbst sieht, leuchtet nicht.
Ich frage einmal ganz grundsätzlich: Was ist Religion? Die endgültige Definition von Religion gibt es nicht. Alles ist vorläufig. Auch Religion ist und bleibt etwas Provisorisches. Das Provisorische ist das Endgültige.
Was ist Religion, nicht nur in Coronazeiten, für mich? Was sie für ‚uns‘ ist, weiß ich nicht. Sicher: Es gibt auch über Religion viel zu wissen. Die Virologen und die Theologen, zum Beispiel, wissen viel. Aber nicht alles, wie ich immer wieder mitbekomme. Stückwerk ist mein und unser Erkennen. Die Gestalt dieser Welt vergeht.
Was ist Religion? - Wenn ich mich über meine Lebens - und Sterbens-Erfahrungen, und was an ihnen ‚religiös‘ ist oder sein könnte, mit anderen austausche, dann tauchen ein paar sehr grundlegende Gemeinsamkeiten in den Einzelerfahrungen auf. Immerhin: Dann könnte Religion vielleicht so etwas wie die Sehnsucht, das Verlangen nach Gemeinschaft, nach Kommunion und Kommunikation sein. In Corona-Zeiten ist Abstand geboten. Ein Wunder, dass Nähe noch intensiver ersehnt ist als sonst?
Religion ist für mich auch das Gefühl einer grundlegenden Abhängigkeit. Diese Erfahrung ist nicht neu. Und sie wird auch nie alt werden, oder gar sterben. Aber in Coronazeiten ist sie besonders aktuell. Ich kann nicht uneingeschränkt über mich selbst bestimmen. Ich spüre Grenzen, ja, noch einmal: ich bin Grenze. Werde älter. Erfahre Endlichkeit und Vergeblichkeit. Alles nicht neu. Das habe ich, haben wir „vor Corona“ schon lange gewusst. Aber nun, in Corona, ist „es“ ganz offen sichtbar und spürbar da.
Die Pandemie ist eine Offenbarung. Sie legt mich und die Welt frei in meinem und ihrem seit langem schon krisenhaften Zustand, deckt auf, macht nackt und bloß. Sagt mir: Du bist endlich, vorläufig, begrenzt, verletzbar, der Schwerkraft unterworfen, überhaupt Kräften, Mächten und Gewalten unterworfen, gegen die du nichts „machen“ kannst.
‚Krise‘ ist etwas Positives. Sie ist eine Zeit der Entscheidung, der Offenheit für Neues. Kein schlechter Zustand. Und auch sie ist vorläufig. Läuft der Entscheidung oder auch Nicht-Entscheidung, die auch eine Entscheidung ist, voraus.
Was ist Religion sonst noch für mich? Ich empfinde sie manchmal als eine unsichere, gestotterte, gestammelte Antwort auf den Schmerz einer offenen Wunde, einer Lebenswunde: Ich weiß nicht, woher ich komme. Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Ich weiß nicht, wo ich nach dem Ende sein werde und wo ich vor meinem Anfang war. Das ist manchmal nicht zum Aushalten. Dazu will ich, nein, muss ich mich irgendwie verhalten. Sonst gehe ich ein wie eine Pflanze ohne Wasser. So gesehen ist Religion Hoffnung auf und Sehnsucht nach Heilung des Unheilbaren. Aber sprich nur ein Wort. Und meine Seele wird gesund.
Religion ist für mich auch das stillschweigende Einverständnis mit der durch meine pure Existenz mitgegebenen Tatsache des Leids. Des ertragenen, erlittenen Leids. Und des Leids, dass ich schaffe durch Verletzungen, die ich zufüge. Mir und anderen. Bewusst oder unbewusst. Beabsichtigt oder unbeabsichtigt.
Religion ist viel mehr für mich, als ich sagen kann. Religion ist, wenn es mir die Sprache verschlägt. Religion ist, wenn ich dankbar in die Knie gehe für ein Glück, das mir geschenkt wurde oder das ich schenken konnte. Religion ist, wenn ich etwas Umwerfendes erfahre. Wenn mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
Die Corona-Krise kann mich einiges lehren. Und ich kann viel von ihr lernen – wenn ich dazu bereit bin. Insofern ist Corona auch ein religiöser Virus., der meine Hybris, meinen Hochmut befällt, meine besserwisserische Arroganz in die Schranken weist, der mich demütig, dien-mutig macht, weniger egoistisch, weniger ichverliebt.
Religion zeigt mir in der Corona-Krise auch, dass es noch eine andere Zeit als die gewohnte Uhren- und Atemlos-Zeit gibt. Eine Zeit, die Heilkraft haben kann für das unruhige Herz, dass je ‚moderner‘, desto schneller schlägt. Unruhig ist unser Herz. Corona ist auch eine Reaktion auf die Überhitztheit, auf die Atemlosigkeit des sogenannten ‚modernen‘ Lebens. Der Virus befällt ja vor allem die Lunge.
Wir haben das Maß verloren. Das Maß ist das, was wir in Wirklichkeit und Wahrheit sind. Noch einmal: Verletzlich, endlich, sterblich, abhängig, beschränkt, begrenzt, erschütterlich, ängstlich, mindestens zwiespältig. Keine strahlenden Siegerinnen und Sieger!
An der Außenseite großer mittelalterlicher Kirchen findet sich unter vielen Figuren fast immer auch „Frau Welt“. Eine Frauengestalt. Schön anzusehen. Und ein wenig überheblich lächelnd. Frau Welt hat aber noch eine Rückseite, die nicht zu sehen ist: In ihrem Rücken wimmelt eine Unmenge kriechendes und stinkendes Getier. Das ist die Rückseite der schönen Frau Welt. Mir scheint, sie hat mir und uns in der Pandemie den Rücken zugekehrt.
Wir haben uns selbst verloren. Wir sind uns abhandengekommen. Weil wir meinten wir „hätten“ uns. Weil wir uns heimlich oder unheimlich daran gewöhnt haben, dass wir uns dann ‚haben‘ würden, wenn wir alles hätten. Fehlanzeige. Da schließt sich ein Kreis zwischen Religion und Corona. Wir müssen uns hüten davor, überheblich zu werden. Weil wir uns sonst überheben. Das „lehren“ mich der Virus und die Religion.
Ich habe nach wie vor, aber konfrontiert mit Corona vermehrt, die Hoffnung, die Sehnsucht, dass diese verrückte Welt, durch die wir wie im freien Fall hindurchfallen, nicht alles ist. Ich vertraue, zweifelnd oft, darauf, dass es einst ein „Mehr als alles“ geben wird. Einen neuen Himmel und eine neue Erde. Und hoffe auf Wunder. Und jage die Ängste fort. Kraft DEINER Angst und Pein.
Zuletzt geändert am 04.08.2020