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Veröffentlicht am 09­.10.2012

9.10.2012 - N-TV

Hans Küng ruft zum Aufstand gegen Rom "Die Kirche ist wirklich krank"

Am 11. Oktober 1962 wurde das Zweite Vatikanische Konzil eröffnet. Es galt damals als richtungsweisendes Reformkonzil. Und in der Tat hat sich in der katholischen Kirche nach dem Konzil viel geändert. Doch in jüngster Zeit sind in Rom Bemühungen zu erkennen, die die Kirche wieder in eine vorkonziliare Zeit zurückbringen wollen. Der katholische Theologe Hans Küng erlebte damals als junger Berater das Konzil hautnah mit. Heute spricht der inzwischen 84-Jährige mit n-tv.de über die Errungenschaften und Versäumnisse der katholischen Kirche, über den Papst und seine Motivationen. Und er bescheinigt der Kirche eine schwere, lebensgefährliche Krankheit, für die es nur eine Medizin gebe: die Orientierung an der Welt und am Evangelium. Denn beides, so Küng, sei im Vatikan beim besten Willen nicht zu erkennen.

n-tv.de:"Wer die Kirche vor dem Konzil nicht erlebt hat, kann sich gar nicht vorstellen, wie sich Kirche gewandelt hat" – diesen Satz hört man sehr häufig im Bezug auf das Zweite Vatikanische Konzil. Sie haben die Kirche vor dem Konzil erlebt. Was hat sich verändert?

Hans Küng: In der Tat kann man sich in der heutigen Kirche kaum vorstellen, dass einmal die Heilige Messe von den Geistlichen in Brokatgewändern auf Lateinisch mit dem Rücken zum Volk gefeiert wurde. Durch das Konzil ist eine Erneuerung der Liturgie erfolgt, eine Erneuerung der Theologie und eine Erneuerung der Kirchenverfassung. Auch wurde eine neue Grundlage für ökumenische Verständigung mit den anderen christlichen Kirchen und den Weltreligionen geschaffen, und die Kirche hat sich gegenüber der modernen Welt geöffnet.

Sie haben im Jahr 1960 das Buch "Konzil und Wiedervereinigung" veröffentlicht. Dort formulierten Sie Ihre Erwartungen an das Konzil – welche davon wurden erfüllt?

Mein Buch war das einzige programmatische Buch vor dem Konzil. Wenn ich die Hauptforderungen von damals noch einmal aufnehme und nachschaue, dann sind sie tatsächlich in vielem umgesetzt worden. Lassen Sie mich zusammenfassen. Erstens: Ernstnehmen der Reformation als eines religiösen Ereignisses. Zweitens: Hochschätzung der Bibel im Gottesdienst, in der Theologie und im ganzen Leben der Kirche. Drittens: Verwirklichung eines echten Volksgottesdienstes in der Volkssprache in Verkündigung und Abendmahl. Viertens: Aufwertung der Laienschaft in Gottesdienst und Gemeindeleben. Fünftens: Anpassung der Kirche an die verschiedenen Kulturen und der Dialog mit ihnen. Und schließlich sechstens: Reform der Volksfrömmigkeit. Das sind immerhin wesentliche Punkte, die dieses Buch im Nachhinein als ein prophetisches Buch bezeichnen ließen.

Aber es gab auch Punkte, mit denen Sie nicht zufrieden waren. Was wurde damals gar nicht oder nicht ausreichend behandelt, das man hätte in Angriff nehmen müssen?

Auch das ist nicht erst meine heutige Einsicht, sondern ich habe in meiner Konzilsbilanz vom 17./18. Dezember 1965, also unmittelbar nach dem Konzil, diese an Papst Paul VI. geschickt. Und da sind folgende Fragen als nicht gelöst hingestellt worden, weil sie nicht diskutiert wurden - oder überhaupt nicht diskutiert werden durften. Erstens: Geburtenkontrolle in persönlicher Verantwortung. Zweitens: Regelung der Mischehenfrage auch im Hinblick auf die Kindererziehung. Drittens: Pflichtzölibat in der lateinischen Kirche. Viertens: Struktur- und Personenreform. Fünftens: Personalreform der römischen Kurie. Sechstens: Reform der Bußpraxis, Beichte und Ablässe. Siebtens: Reform der Prälatenkleidung und Prälatentitel,. Achtens: wirksame Einschaltung der betroffenen Kirchengebiete bei Bischofsernennungen. Und neuntens: Übertragung der Papstwahl vom Kardinalskollegium auf die für die Kirche repräsentative Bischofssynode.

Und bis heute drückt hier der Schuh?

Ja, das ist leider so. Wenn man denkt, dass ich diese Punkte schon im Jahr 1965 aufgeschrieben habe, so muss man sagen: Seither hat sich gar nichts bewegt. Aber auch gar nichts. Und das ist die traurige Seite; die Negativbilanz des Konzils. Das Konzil war nicht fähig, dafür zu garantieren, dass die Reformen auch durchgesetzt wurden. Die römische Kurie war damals ja von Anfang an in ihrem Kern gegen das Konzil. Sie hat das Konzil ständig in seinem Ablauf behindert. Und sie hat schließlich auch nach dem Konzil alles getan, um die Ergebnisse möglichst ineffektiv zu halten.

Im Gegensatz zu Modernisierungsprozessen, die sich viele Menschen von der Kirche erhoffen, sind heute immer wieder Tendenzen zu beobachten, die die Rückkehr in eine vorkonziliare Zeit andeuten – zum Beispiel die Wiedereinführung der lateinischen Messe. Aus welcher Motivation geschehen solche "weltfremden" Rückschritte?

Ratzinger und die Seinen leben geistig noch immer im Mittelalter. Das ist keine Verleumdung, sondern das würde er sogar bejahen, denn er will ja die mittelalterliche Liturgie wieder aufwärmen mit der lateinischen Sprache und alten, komplizierten Riten. Die große Zeit der katholischen Kirche ist für diese Leute das Mittelalter gewesen. Der Papst vertritt eine mittelalterliche Theologie, im Anschluss an Augustin und Bonaventura. Er vertritt vor allem aber eine mittelalterliche Kirchenverfassung mit einem Papalismus - einem extremen Betonen des Papsttums - und er vertritt eine in vieler Hinsicht mittelalterliche Frömmigkeit, mit allen möglichen Wundern, Legenden und Aberglauben. Das alles führt zu einem strammen antireformatorischen und antimodernen Zug.

Das heißt, der Wille, sich zu verändern oder sich anzupassen, ist im Vatikan gar nicht da.

Nein. Was zählt ist die Tradition. Und die will man erhalten, denn das ist auch eine Machtfrage. Man möchte die Macht - sozusagen die mittelalterliche Macht der Päpste und der römischen Kurie - bewahren.

Dabei steckt die katholische Kirche in einer Krise. Mitgliederschwund, Missbrauchs- und Vatileaks-Affäre dominieren die Berichterstattungen der letzten Monate und Jahre. Wie schwer ist die Kirchenkrise?

Die Kirche ist wirklich krank. Wenn man da eine Diagnose macht, dann sieht man, dass sich da vieles nicht mehr fügt. Es ist einfach nötig, eine Radikalreform zu erreichen. Dieser Mitgliederschwund, die Missbrauchs- und die Vatileaks-Affäre sind ja nur die Phänomene einer tiefen Strukturkrise. Uns, der Welt wird immer nur die Fassadenkirche vorgeführt. Zum Beispiel auf dem Petersplatz: die Hunderttausenden von Gläubigen oder weniger Gläubigen, von Touristen und Schaulustigen, erwecken den Eindruck, als ob sich nichts geändert habe.

Was verbirgt sich hinter dieser Fassade?

Wenn man in die Gemeinden schaut, in Deutschland, Europa, aber auch in Lateinamerika oder Afrika, dann sieht man, dass diese Gemeinden keine Pfarrer mehr haben. Dass sie verlottern und ausgetrocknet werden. Ein Großteil der lebendigen, fortschrittlichen Frauen etwa ist aus der Kirche ausgezogen. Die Jugend wird zu einem schönen Teil gar nicht mehr integriert oder in der Kirche sozialisiert. Diese Krise ist lebensgefährlich! Wenn wir so weitermachen, kann sich die katholische Kirche zu einer Großsekte entwickeln, mit oder ohne den Papst.

Für viele Menschen wirkt sie doch schon sektenhaft: Die Kirche scheint kein Teil der gesellschaftlichen und menschlichen Lebenswelt mehr zu sein, sondern eher eine eigene, geschlossene und lebensfremde Parallelwelt. Kann Kirche heute in einer pluralen Welt noch mehr sein als dies?

Sie kann mehr sein, wenn sie wieder zurückgeht auf die ursprüngliche christliche Botschaft. Ich habe gerade ein Buch über Jesus geschrieben, das zeigt, wie Jesus, seine Botschaft, sein Verhalten und sein Geschick nach wie vor von größter Aktualität sind. Und man sollte sich eben nicht um das lateinische Kirchenrecht oder das Zölibatsgesetz bemühen, sondern wieder um Jesus selber! Man sollte sich fragen, was er täte, wenn er zurückkäme - so wie er bei Dostojewski in der Legende vom Großinquisitor zurückkam und der Großinquisitor ihn fragte: "Warum kommst du, uns zu stören?" Und Jesus stört tatsächlich in der kirchlichen Landschaft heute. Man kann sich nicht vorstellen, dass er im Petersdom an einer Papstmesse mitwirken würde. Damit die Kirche für die Menschen wieder mehr wird als eine Parallelwelt, müsste zunächst eine Besinnung auf das Evangelium in Rom selber stattfinden. Und zweitens müsste eine neue Offenheit gegenüber den Anliegen der Menschen entstehen. Eine Offenheit gegenüber der Welt. Keine Scheuklappen gegenüber bestimmten Fragen, keine Tabus. Es braucht aber letztendlich beides: Orientierung an der Welt und am Evangelium.

In diesem Evangelium heißt es auch: "Bemüht euch, die Einheit des Geistes zu bewahren durch den Frieden, der euch zusammenhält." Angesichts der unterschiedlichen Konfessionen regt dieser Vers zum Nachdenken an. Der Aufruf "Ökumene jetzt" will anlässlich des Konzil- und Reformationsjubiläums die Kirchentrennung baldmöglichst überwinden. Wie schätzen Sie das Potenzial und die Erfolgschancen dieser Initiative ein?

Dieser Aufruf ist nicht der einzige, der Ökumene und Reformen jetzt will. Das zeigt: Viele Menschen wollen nicht weiter eine Diskussion um Reformen, sondern Taten der Reformen. Ich schätze alle diese Aufrufe sehr. Das betrifft auch die österreichische Pfarrerinitiative, die sagt: "Wir Pfarrer machen das alles schon". Hunderte von Pfarrern geben die Eucharistie schon den Evangelischen und Andersgläubigen. Sie haben eine andere Einstellung zur Unauflöslichkeit der Ehe oder zur Wiederheirat. Sie haben eine andere Einstellung zur Sexualität. Wenn man das alles ansieht, so sieht man, dass von unten tatsächlich die Reform der Kirche weitergeht.

Ist das der Weg: Reform von unten?

Wir haben nicht viel Hoffnung, dass man in Rom unter diesem Papst noch irgendetwas Reformträchtiges hören wird. Zu der Pfarrerinitiative in Österreich hat sich gerade eine entsprechende Bewegung in der Schweiz entwickelt, ähnliche Initiativen sind in den Niederlanden und in den Vereinigten Staaten im Entstehen. Wir müssen von unten her die Maßnahmen ergreifen. Wir können nicht einfach immer mit Berufung auf Gehorsam denen gehorchen, die selber dem Evangelium und unserem Herrn Jesus nicht gehorsam sind. Wir müssen unsere Verantwortung wahrnehmen und einfach mal das machen, was nach dem Evangelium gemacht werden soll.

Das sind klare Worte – und eine Aufforderung zum Aufstand?

Ja, es muss endlich Schluss sein mit diesem gehorsamen Annehmen und immer wieder Herausreden, dass dies oder das nicht gemacht werden könnte, weil die gesamtkirchliche Dimension beachtet werden muss. Natürlich wollen wir keine weitere Spaltung der Kirche. Aber Spaltung wird ja provoziert durch die, die sich jedem Dialog und jeder Reform verweigern. Und solange sie das tun, muss die Reform von unten vorangetrieben werden. Und die Bischöfe werden merken: Wenn es mit ihnen nicht geht, dann geht es unter Umständen ohne sie.

Halten Sie angesichts der Situation der Kirche heute, nach 60 Jahren, ein "Drittes Vatikanisches Konzil" für notwendig?

Es muss nicht unbedingt ein Vatikanisches Konzil sein. Es kann ja auch einfach ein neues Konzil sein. Wenn ein solches ausgerufen würde, wäre das jedenfalls schon einmal ein Zeichen dafür, dass man noch nicht am Ende der Reformen ist. Das Konzil müsste dann eine repräsentative Versammlung von Katholiken und womöglich auch von Christen allgemein sein, die - nicht wie bisher - nur den Klerus repräsentieren. Auch die Seelsorger vor Ort, die Männer und Frauen im Dienst der Gemeinden und überhaupt die Laienschaft müssen vertreten sein. In einer solchen Versammlung wäre es möglich, über Reformen zu reden. Aber eigentlich bräuchte es für Reformen kein Konzil – sie könnten ja schon jetzt vom Papst eingeleitet werden. Weil sie vom Papst aber offenkundig nicht gewollt sind, müssen sie vom Kirchenvolk selbst kommen. Von den aktiven Männern und Frauen in unseren Gemeinden. Da gibt es viele Leute, die gute Ideen haben. Sie müssen sie nur verwirklichen und in Angriff nehmen.

Mit Hans Küng sprach Fabian Maysenhoelder

http://www.n-tv.de/politik/Die-Kirche-ist-wirklich-krank-article7364746.html

Zuletzt geändert am 13­.11.2012