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Veröffentlicht am 24­.01.2012

24.1.2012 - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Fehlinterpretiertes Selbstverständnis

Sexueller Mißbrauch: Vor zwei Jahren wurde die Mauer des Schweigens durchbrochen /Von Daniel Deckers

MÜNCHEN, im Januar Die Mauer des Schweigens brach vor genau zwei Jahren. Der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes, gestand in einem Brief an ehemalige Absolventen des renommierten Gymnasiums ein, dass sich mehrere Jesuiten einst an Schülern sexuell vergangen hätten. Die Schockwellen, die von dem Ende Januar 2010 publik gewordenen Brief ausgingen, erfassten binnen weniger Wochen alle 27 Bistümer und eine Vielzahl von Ordensgemeinschaften. Zwar waren schon im Sommer des Jahres 2002 unter dem Eindruck skandalöser Enthüllungen über die systematische Vertuschung sexueller Übergriffe in den Vereinigten Staaten auch in Deutschland über Monate hinweg über vergleichbare Vorgänge in Deutschland berichtet worden, so dass sich die Deutsche Bischofskonferenz als erste Institution hierzulande veranlasst sah, sich Leitlinien für den Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs zu geben. Doch niemand, der eine kirchliche Institution repräsentierte, forderte die Opfer auf, sich Gehör zu verschaffen. Jetzt aber fassten sich Tausende Männer und Frauen, denen als Kind oder Jugendliche in Pfarrhäusern, Internaten oder auf Freizeiten Gewalt angetan worden war, ein Herz. Dass die meisten Übergriffe, die in den folgenden Monaten gegenüber den Mitarbeitern einer von der Bischofskonferenz eingerichteten telefonischen Anlaufstelle („Hotline") zur Sprache kamen, Jahrzehnte zurücklagen, änderte an der Dramatik der Lage nichts.

Denn die Strukturen, in deren Schutz sich Pfarrer, Ordensleute, aber auch Pädagogen im kirchlichen Dienst in Pfarrhäusern, Internaten oder auf Freizeiten an Minderjährigen oder Schutzbefohlenen vergehen konnten, waren noch immer weitgehend intakt. Hinter einer Fassade allgemeiner Betroffenheitsbekundungen und Entschuldigungen musste selbst der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Zollitsch, über Monate hinweg gewärtigen, wegen gravierenden Fehlverhaltens in der Vergangenheit und Unaufrichtigkeit in der Gegenwart seine Ämter aufgeben zu müssen. Nicht weniger kennzeichnend für die vorherrschende Mentalität in der Kirche war der Umstand, dass zunächst nur einer der 27 Diözesanbischöfe, der Münchner Erzbischof Reinhard Marx, den Mut aufbrachte, den Umgang mit Tätern und Opfern in der Vergangenheit und damit auch die Amtsführung seiner Vorgänger von unabhängigen Fachleuten untersuchen zu lassen.

Die Umstände des Zustandekommens wie das Ergebnis des entsprechenden Missbrauchsberichts, der schon im April 2010 bei einer renommierten Rechtsanwaltskanzlei in Auftrag gegeben und im Winter desselben Jahres abgeschlossen wurde, bestätigten die schlimmsten Befürchtungen. Im Bereich der Bistumsverwaltung erwies es sich nicht nur als überaus schwierig, jener Personalakten habhaft zu werden, welche die Grundlage jeder lückenlosen Untersuchung bilden sollten. Zudem waren nicht wenige Akten unvollständig oder sie waren bewusst gesäubert worden.

Das Urteil, das die Münchner Rechtsanwältin Marion Westpfahl über den Umgang mit Tätern und Opfern fällte, fiel um so deutlicher aus. Die Juristin, die einst als Staatsanwältin gegen Verantwortliche der Vatikan-Bank ermittelt hatte, hielt Marxens Vorgängern auf dem Stuhl des Erzbischofs von München und Freising, darunter den Kardinalen Döpfner, Ratzinger und Wetter, vor: „Die durchgängig, wenn auch in unterschiedlicher Entschlossenheit ausgeprägte Bereitschaft, selbst gravierende Vergehen unaufgeklärt und ungesühnt zu belassen, findet ihre Wurzel in einem nach Überzeugung der Gutachter fehlinterpretierten klerikalen Selbstverständnis, das einem brüderlichen Miteinander verpflichtet in einem im Ergebnis rücksichtslosen Schutz des eigenen Standes eine Rechtfertigung für eine nicht tolerable Vertuschung sucht“, hieß es in der Zusammenfassung. Ratzinger allerdings, so war in München zu hören, hatte sich in Jahren von 1977 bis 1981, in denen er an der Spitze der größten bayerischen Diözese stand, am wenigsten zuschulden kommen lassen. Einzelheiten des Wirkens des heutigen Papstes in München sind jedoch ebenso wenig zu erfahren wie solche über das Tun und Lassen seiner Vorgänger und Nachfolger. Nicht nur, aber aus Gründen des Datenschutzes unterliegt der Bericht als solcher strikter Geheimhaltung.

Nach und nach wurde unter den anderen Bischöfen sowie den Ordensoberen die Auffassung mehrheitsfähig, dass Art und Ausmaß sexueller Übergriffe in der katholischen Kirche auch wissenschaftlich untersucht werden sollten. Im Juli 2011 wurde zwischen dem Verband der Diözesen Deutschlands und dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN), das von dem umtriebigen ehemaligen niedersächsischen Justizminister Pfeiffer geleitet wird, ein entsprechender Vertrag geschlossen. Gleichzeitig, so erläuterte damals der Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für Fragen im Zusammenhang des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen im kirchlichen Bereich, der Trierer Bischof Ackermann, werde es ein zweites wissenschaftliches Projekt geben. Unter dem Titel „Sexuelle Übergriffe durch Geistliche in der katholischen Kirche Deutschlands - Analyse psychiatrisch-psychologischer Gutachten“ sollte ein umfassendes Bild der Täterpersönlichkeiten gezeichnet werden. Den Auftrag hierzu erhielten ausschließlich jene drei Psychiater, die in den vergangenen Jahren im Auftrag der Bischöfe in Verdachtsfällen forensische Gutachten verfasst hatten.

Beide Arrangements haben bis heute nichts an Fragwürdigkeit eingebüßt. So steht nicht nur einer der drei Psychiater in dem Ruf, mehrfach forensische Gutachten erstattet zu haben, die der Tragweite des Geschehens wie der Problematik des mutmaßlichen Täters nicht gerecht geworden waren. Doch allein aus wissenschaftsethischen Gründen wäre es geboten gewesen, die Gutachten einer Bewertung durch Dritte zu unterziehen anstatt die Gutachter ihre eigenen Gutachten auswerten zu lassen. Hinzu kommt, dass die Psychiater erst vor gut einem Jahrzehnt tätig wurden. Somit können sie nichts zu der Aufklärung der Täterprofile in den sechziger, siebziger und achtziger Jahre beitragen -und damit auch nicht zu der Frage, warum Anzahl und Ausmaß sexueller Übergriffe ausgangs des 20. Jahrhundert anscheinend deutlich zurückgingen.

Auf erhebliche Vorbehalte ist auch das von Bischof Ackermann mit viel Vorschusslorbeer versehene Forschungsprojekt des KFN gestoßen. In vielen Bistümern drohen Priester und Priestergruppen mit juristischen Mitteln, sollten bei der Erhebung oder Weitergabe von personenbezogenen Daten an das Institut Vorschriften des Datenschutzes und des Arbeitsrechts missachtet werden. Unterstützung finden diese Bedenken ausgerechnet im Erzbistum München. Die Bistumsleitung hat Ende vergangenen Jahres die Zusammenarbeit mit dem KFN und die Mitarbeit im Beirat des Forschungsprojektes so lange ausgesetzt, bis alle juristischen Fragen im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Fürsorgepflicht vertraglich so geklärt sind.

Freilich richten die Verantwortlichen im Erzbistum München ihren Blick längst nicht mehr nur auf die Vergangenheit. Am vergangenen Freitag wurde in einem, unscheinbaren Hinterhaus in der Münchner Innenstadt eine Einrichtung eingeweiht, die weltweit ihresgleichen sucht: Unter dem Namen „Zentrum für Kinderschutz" sollen Wissenschaftler in den drei kommenden Jahren eine internetgestützte Lern- und Qualifizierungsplattform zum Thema sexueller Missbrauch entwickeln und zusammen mit kirchlichen Partnern in Indien, Indonesien, Ghana, Kenia, Ecuador, Argentinien und Italien erproben, ob sich die Lerneinheiten in unterschiedlichen kulturellen Kontexten bewähren.

Geht es nach dem Erzbistum München, der römischen Jesuitenuniversität Gregoriana und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Ulm, die dieses Zentrum gemeinsam ins Leben gerufen haben, dann können kirchliche Mitarbeiter dereinst weltweit durch „e-learning" mit dem Anliegen vertraut gemacht werden, Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen und Missbrauch vorzubeugen. Auch wenn das Interesse der Öffentlichkeit an den Vorgängen in der Kirche nachgelassen habe, dürfe man nicht auf halbem Weg stehenbleiben, gab der Personalchef des Erzbistums, Franzl, zu bedenken. Der Jesuit Hans Zollner, Vizerektor der Gregoriana und Direktor des dortigen Instituts für Psychologie, sprach denn auch von einer „neuen Kultur des Hinschauens und Hinhörens".

Was bei alldem für die Kirche auf dem Spiel' steht, das entnahm der Leiter des Zentrums, der Ulmer Psychologe Liebhardt, den Worten Jesu über die Kinder im Matthäus-Evangelium: „Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde.“

Zuletzt geändert am 27­.01.2012