Norbert Mette zur Enzyklika „Fratelli tutti“ vom 3. Oktober 2020
„Fratelli tutti“ – ein prophetischer Mahn- und Aufruf
Eine harsche Kritik aus Wirtschaftskreisen
Im Interview mit der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA) am 5. Oktober äußerte Prof. Clemens Fuest, Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, seine Einschätzung der neuen Enzyklika von Papst Franziskus wie folgt: „Insgesamt bin ich enttäuscht. Es ist richtig, dass der Papst mehr Solidarität mit den Schwachen in der Welt einfordert. Es fehlen aber wegweisende Ideen dazu, wie das zu erreichen ist. Gleichzeitig strotzt der Text vor anti-marktwirtschaftlichen Ideologie und Fehleinschätzungen über Globalisierung und die Rolle von Privateigentum.“ Im weiteren Verlauf des Interviews bemerkt er, dass eine allein auf Nächstenliebe beruhende Gesellschaft nicht funktioniere, dass es keine Gesellschaft gebe, in der Marktkräfte sich ungehemmt ausbreiten würden, dass der Papst sich irre, wenn er meine, die marktliberale Vorstellung, die Summe der Verwirklichung der Einzelinteressen bringe für alle das beste Ergebnis, sei widerlegt und dass die Behauptung, die Globalisierung hätte den Schwachen nicht genützt und sie nur in Abhängigkeiten geführt, eine „schlichte Unwahrheit“ sei. Mit dieser harschen Kritik wird Präsident Fuest sicherlich nicht allein dastehen. Sie macht es erforderlich, genauer in die Enzyklika hineinzuschauen und zu prüfen, ob an der Kritik etwas Wahres dran ist.
Anliegen der neuen Enzyklika
Zu Problemen und Herausforderungen, mit denen derzeit die Menschheit konfrontiert ist, hat sich der Papst während seines bisherigen Pontifikats immer wieder geäußert – in Botschaften, Ansprachen, Grußschreiben an Konferenzen etc. Besonders ist seine vorausgegangene Enzyklika „Laudato si´“ zu nennen. Wie die Anmerkungen zu der jetzigen Enzyklika belegen, hat er wiederholt auf von ihm vorliegende Stellungnahmen zu verschiedenen Fragen zurückgegriffen. Mit der neuen Enzyklika verfolgt er die Absicht, diese seine Texte zu bündeln und die darin angesprochenen Einzelthemen in einen größeren Reflexionsrahmen hineinzustellen. Programmatisch steht dafür der Untertitel: Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft bzw., wie es in Abschnitt 1 heißt: „Liebe, die alle politischen und räumlichen Grenzen übersteigt“. Von der (Rück-)Besinnung auf diese Tugenden erhofft sich der Papst die Überwindung des derzeit desolaten Zustands der Welt, also die Schaffung einer neuen und besseren Weltgesellschaft auf der Grundlage der Anerkennung der Würde und der Rechte jedes einzelnen Menschen, unabhängig von Herkunft und Status.
Der Papst weiß, dass er und seine Kirche keine probaten Lösungen für alle Weltprobleme an der Hand haben. Er verzichtet in seinem Schreiben – wie auch in seinen sonstigen Texten – auf einen belehrenden Ton, appelliert aber eindringlich an das Verstehen und die Einsicht seiner Adressat*innen (Seine Enzyklika richtet sich an alle Menschen, nicht nur an die Angehörigen der katholischen Kirche). Wo es für ihn angezeigt ist, scheut er vor klaren Verurteilungen nicht zurück. Alles in allem möchte er zum Nachdenken anregen.
Um möglichst viele Menschen zu erreichen, ist der Text in einfacher Sprache gehalten. Der Papst entwirft kein umfassendes Theoriegebäude. Sondern seine Ausführungen basieren auf persönlichen Erfahrungen und Reflexionen sowie vertiefenden Lektüren. Er möchte überzeugen, lädt die Leser*innen ein, sich seine Sichtweise zu eigen zu machen (oder auch nicht). Während frühere Texte der kirchlichen Soziallehre es weitgehend bei allgemeinen Prinzipien für die gesellschaftliche Ordnung beließen, scheut sich Papst Franziskus nicht, zu einzelnen von ihm behandelten Punkten auch konkrete Maßnahmen zu deren Überwindung vorzuschlagen.
Schwerpunkte der Enzyklika
In dem ersten Kapitel führt die Enzyklika eine ganze Reihe von „Schatten der abgeschotteten Welt“ an. Diese Überschrift deutet bereits an, dass die Zeitdiagnose eher düster ausfällt. In der Tat lassen sich nach Meinung des Papstes bei allen positiven Errungenschaften viele Indizien dafür anführen, dass wir es im Vergleich zu dem früheren Bestreben von Völkern und Nationen, aus der Erfahrung von Kriegen und Konflikten belehrt Vereinbarungen zur Kooperation und Integration miteinander als Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben zu treffen, mit erheblichen Rückschritten zu tun haben. Dafür führt er u.a. an: das Erwachen von Nationalismen; das Erstarken von Popularismen; die Verbreitung von konsumbesessenem Individualismus und kultureller Kolonisation; Siegeszug einer nicht am Allgemeinwohl, sondern nur am eigenen Profit interessierten und global agierenden Wirtschaft; Relativierung der Menschenrechte; die Spaltung des Globus in arme und reiche Menschen; damit verbunden ein Sozialdarwinismus („Selbstherrlichkeit der Stärksten“) sowie eine Homogenisierung der Welt auf Kosten überkommener Kulturen; Zunahme von Gewalt in Form von Kriegen, Attentaten und Verfolgungen; eine fremdenfeindliche Mentalität bis hin zum Rassismus; Schwächung der gemeinsamen Werte und des Verantwortungsbewusstseins; historische und kulturelle Entwurzelung vieler Menschen; Zerstörung der Kommunikation durch Hass und Aggressivität in den digitalen Medien und insgesamt ein vorherrschend gewordenes Gefühl von Frustration, Einsamkeit und Verzweiflung. Die Covid-19-Pandemie habe für eine gewisse Zeit das Bewusstsein für die Zusammengehörigkeit aller Menschen über die Grenzen hinweg geweckt, drohe aber in neue Formen der egoistischen Selbsterhaltung zu verfallen und so zu einem weiteren Element des Rückschritts zu werden.
Der Papst konstatiert zusammenfassend: „Die weltweite Gemeinschaft weist schwerwiegende strukturelle Mängel auf, die nicht durch Zusammenflicken oder bloße schnelle Gelegenheitslösungen behoben werden. Es gibt Dinge, die durch neue Grundausrichtungen und bedeutende Verwandlungen verändert werden müssen.“ (FT 179) Er geht somit davon aus, dass den Missständen wirksam nur zu begegnen ist und sie zu überwinden sind, wenn man sie radikal angeht, also bis zu ihren Wurzeln vorstößt. Und die bestehen für ihn „in verkürzten anthropologischen Sichtweisen sowie einem Wirtschaftsmodell, das auf dem Profit gründet und nicht davor zurückschreckt, den Menschen auszubeuten, wegzuwerfen und sogar zu töten“. (FT 22)
Wie Grundlagen für eine humanere und nachhaltigere Welt aussehen und gestaltet werden könnten, damit beschäftigen sich die weiteren sieben Kapitel der Enzyklika. Mit ihnen möchte der Papst zugleich Hoffnung und Mut machen, solche Maßnahmen auch in Angriff zu nehmen. Als Ausgangspunkt hat Papst Franziskus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10, 25-37) gewählt. An ihm lassen sich, wenn man es sozial liest, sowohl Symptome einer kranken Gesellschaft ausmachen, die darin bestehen, dass den Nöten und Leiden der Schwachen und Gebrechlichen, der unter die Räder Gekommenen keine Beachtung geschenkt wird. Demgegenüber führt der zufällig vorbeikommende Samariter mit seiner spontanen Hilfeleistung für den unter die Räuber Gefallenen eindrücklich vor Augen, dass es zutiefst human ist, sich vom Leid des Anderen anrühren zu lassen. Johann Baptist Metz hat dafür den Begriff „Compassion“ (Mit-leid-en-schaft) benutzt. Das Gleichnis fordert dazu auf, und das wird durch das Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25, 31-46) bekräftigt, zum Nächsten derer zu werden, die unserer bedürfen, und zwar unterschiedslos über bestehende Grenzen hinweg.
Das in diesen biblischen Texten grundgelegte Thema der Nächstenliebe und Geschwisterlichkeit wird in den weiteren Kapiteln entfaltet. Diese Liebe, so führt der Papst aus, beschränkt sich nicht nur auf den Nahbereich, sondern ihr wohnt eine universale Weite inne. Er bezeichnet sie als „das Herzstück jedes gesunden und nicht ausgrenzenden Gesellschaftslebens“ (FT 184). Gerade das Hinausgehen über sich selbst auf den und die anderen hin wird zu einer Bereicherung für einen selbst, eröffnet die Chance, etwas Neues zu lernen. Das gilt auch für Politik und Wirtschaft, wofür entsprechende Strukturen geschaffen werden müssen. Wo gegen die Würde und die Rechte der Menschen, vor allem der Schwachen und Benachteiligten, verstoßen wird, bleibt die Liebe außen vor. Sie findet ihren Niederschlag in dem Willen zum Niederreißen von Mauern, Überspringen von Grenzen, Eingehen von Beziehungen, zum echten Dialog untereinander und zur Freundschaft miteinander. Aus ihr erwachsen die Möglichkeit und Fähigkeit zum Frieden, zur Versöhnung und Vergebung sowie zum kreativen Umgang mit Konflikten. Für die internationale Zusammenarbeit hält der Papst die Institution einer wie auch immer ausgestalteten Weltregierung für unerlässlich. Bei all dem gilt es nach ihm, nicht die Unterschiede aufzuheben, etwa mit Blick auf die Kulturen, die Beheimatung vermitteln; nur muss verhindert werden, dass die Unterschiede zum Anlass genommen werden, sich gegenseitig abzuschotten. Alles dieses wird von Papst Franziskus nicht nur für das individuelle Verhalten, sondern auch für den sozialen bis hin zum globalen Umgang miteinander durchbuchstabiert (universale Geschwisterlichkeit und Solidarität). Abschließend weist Papst Franziskus auf den transzendenten absoluten Ursprung der Liebe hin, aus dem sich für die Gläubigen die Berufung ergibt, sich gemeinsam für die Schaffung einer besseren Welt einzusetzen. Mit der in ihnen aufbewahrten und tradierten Weisheit sind sie prädestiniert, einen entscheidenden Beitrag zu einer Kultur der Begegnung und Geschwisterlichkeit einzubringen. Mit Blick auf das Christentum bedauert er, „dass dem Globalisierungsprozess noch immer der prophetische und spirituelle Beitrag der Einheit der Christen fehlt“ (FT 280). Gegen eine falsche und nicht selten überhebliche Selbsteinschätzung gibt der Papst zu bedenken, „dass die Tatsache, an Gott zu glauben und ihn anzubeten, keine Garantie dafür ist, dass man auch lebt, wie Gott es gefällt […] Paradoxerweise können diejenigen, die sich für ungläubig halten, den Willen Gottes manchmal besser erfüllen als die Gläubigen“ (FT 74).
Ein Katalog von grundlegenden Rechten und Verboten
Mit Nachdruck werden in der Enzyklika Rechte geltend gemacht, ohne die ein individuelles und kollektives Wohl (Gemeinwohl) nicht erreicht werden kann:
- Jeder Mensch hat eine unveräußerliche Würde und damit das Recht, sich voll zu entwickeln (FT 107, 213).
- Niemand darf aufgrund seiner Herkunft ausgeschlossen werden und schon gar nicht aufgrund der Privilegien anderer, die unter günstigeren Umständen aufgewachsen sind (FT 121).
- Die Frauen haben die gleiche Würde und die gleichen Rechte wie die Männer (FT 23).
- Die Gerechtigkeit verlangt die Anerkennung und Achtung nicht nur der individuellen Rechte, sondern auch der sozialen Rechte und der Rechte der Völker (T 129).
-Wir brauchen eine rechtliche, politische und wirtschaftliche Weltordnung, die die internationale Zusammenarbeit auf die solidarische Entwicklung aller Völker hin ausrichtet und fördert (FT 138).
- Es bedarf der Globalisierung der grundlegenden Menschenrechte. Dazu gehören als Minimalvoraussetzungen: das Zur-Verfügung-Stehen ausreichender Nahrungsmittel für alle Menschen, das Recht auf eine eigene Wohnung, das Recht auf Arbeit, der Zugang zur Gesundheitsversorgung, die Bestrafung des Menschenhandels u.a.m.
- Jeder Mensch hat das Recht, nicht auszuwandern, wofür politisch die entsprechenden Bedingungen geschaffen werden müssen (FT 38).
- Jeder Mensch hat das Recht, einen Ort zu finden, an dem er nicht nur seinen Grundbedürfnissen und denen seiner Familie nachkommen, sondern sich auch als Person voll verwirklichen kann (FT 129).
- Dem Recht auf Privateigentum geht das Prinzip der universalen Bestimmung des geschaffenen Gutes voraus (FT 120).
- Die Lehre vom gerechten Krieg ist aufgrund der neu entwickelten Waffentechnologien nicht mehr vertretbar. Der Krieg ist total zu ächten (FT 258).
- Die vollkommene Abschaffung der Atomwaffen ist eine moralische und humanitäre Pflicht (FT 262).
- Die Todesstrafe ist unzulässig (FT 267).
- Die lebenslange Freiheitsstrafe ist eine verdeckte Todesstrafe (FT 268).
- Die Religionsfreiheit gilt nicht nur in privater Hinsicht, sondern auch für den öffentlichen Raum (FT 274, 276).
Kommt es neben Liebe nicht auch auf Gerechtigkeit an?
In Anbetracht dieses Rechtskatalogs drängt sich die Frage auf, ob nicht neben dem Prinzip der Liebe auch das Prinzip der Gerechtigkeit zur Sprache kommen müsste. Dies legt sich nicht nur mit Blick darauf nahe, wie denn sonst die Einhaltung der Rechte gewährleistet werden kann und gegebenenfalls Sanktionsmaßnahmen ergriffen werden können, sondern es lassen sich dafür auch theologische Gründe angeben. So hat beispielsweise Johann Baptist Metz nach Erscheinen der Enzyklika „Deus caritas est“ (Gott ist Liebe) geltend gemacht, dass er einen zweiten biblischen Gottesnamen gebe: Gott ist Gerechtigkeit. Daraus ergebe sich für den christlichen Glauben, dass Gerechtigkeit nicht nur ein politisches oder ein sozialethisches Thema sei, sondern ein strikt theologisches, eine Glaubensauskunft über Gott und seinen Christus. Der christliche Glaube sei von seiner Wurzel her ein gerechtigkeitssuchender Glaube.[1] Auch in der Ökumene wird der Gerechtigkeit ein hoher theologischer Stellenwert beigemessen. Im Konziliaren Prozess beispielsweise ist der Einsatz für Gerechtigkeit dem für Frieden und Bewahrung der Schöpfung vorgeordnet.
Der Papst – ein Phantast?
Doch, so drängt sich als weitere Frage auf, wie realitätsnah sind die Vorstellungen des Papstes? Lassen sie sich überhaupt umsetzen? Handelt es sich nicht um zwar hehre, aber wirklichkeitsfremde Illusionen, denen der Papst nachgeht? Der Papst hat mit solchen Reaktionen auf sein Schreiben gerechnet und bereits darin dazu Stellung genommen. Er gibt zu, dass ein Vorschlag mit großen Zielen für die Menschheit heute wie eine Verrücktheit klinge (FT 16), der Traum, gemeinsam Gerechtigkeit und Frieden aufzubauen, wie eine Utopie aus anderer Zeit erscheine (FT 30). Aber, so rechtfertigt er sein Unternehmen, es gehe dabei um eine andere Logik als die derzeit vorherrschende. Sie ergebe sich aus der Anerkennung der unveräußerlichen Würde jedes Menschen, die zu einer globalen Ethik der Solidarität und Zusammenarbeit im Dienst an einer Zukunft anhalte, an deren Gestaltung die ganze Menschheitsfamilie mitwirke (FT 127). „Es ist keine pure Utopie“, so heißt es in FT 180, „jeden Menschen als Bruder oder Schwester anerkennen zu wollen und eine soziale Freundschaft zu suchen, die alle integriert. Dazu braucht es Entschiedenheit und die Fähigkeit, wirksame Wege zu finden, die sie real möglich machen.“ Unabdingbar dafür sei ein Wandel im Herzen der Menschen (FT 166), eine spirituelle Tiefe, „um den menschlichen Beziehungen Qualität zu verleihen, damit die Gesellschaft selbst auf ihre Ungerechtigkeiten, Verirrungen sowie Machtmissbräuche in wirtschaftlichen, technologischen, politischen und medialen Bereichen reagieren kann“ (FT 167). Hier stimmt Papst Franziskus mit der alten Devise der katholischen Sozialbewegung überein, dass es um beides zu tun ist, die Bekehrung der Herzen und die Veränderung der Strukturen.
Kein Sachverstand in Wirtschaftsfragen?
Um auf die Kritik von Präsident Fuest zurückzukommen: Sicher hat er recht, wenn er jeden Einzelnen auffordert, etwas für schwächere Menschen und Menschen in Schwierigkeiten zu tun. Aber selbst wenn das von allen beherzigt würde, reicht das für die Schaffung einer gerechten Weltordnung nicht aus. Denn die besten Bemühungen – so zeigt es sich – werden unterlaufen, solange ungerechte Strukturen fortdauern.
Was er dazu in seinem Scheiben „Evagelii gaudium“ dazu breiter ausgeführt hat, bringt er in der neuen Enzyklika prägnant auf den Punkt:
„Der Markt allein löst nicht alle Probleme, auch wenn man uns zuweilen dieses Dogma des neoliberalen Credos glaubhaft machen will. Es handelt sich um eine schlichte, gebetsmühlenartig wiederholte Idee, die vor jeder aufkeimenden Herausforderung immer die gleichen Rezepte herauszieht. Der Neoliberalismus regeneriert sich immer wieder neu auf identische Weise, indem er – ohne sie beim Namen zu nennen – auf die magische Vorstellung des Spillover oder die Trickle-down-Theorie als einzige Wege zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme zurückgreift. Man sieht nicht, dass die vorgebliche Neuverteilung nicht die soziale Ungerechtigkeit aufhebt, die ihrerseits Quelle neuer Formen von Gewalt ist, die das gesellschaftliche Gefüge bedrohen. Einerseits ist eine aktive Wirtschaftspolitik unverzichtbar, die darauf ausgerichtet ist, `eine Wirtschaft zu fördern, welche die Produktionsvielfalt und die Unternehmerkreativität begünstigt´, damit es möglich ist, die Anzahl von Arbeitsplätzen zu erhöhen, anstatt sie zu senken. Eine Finanzspekulation mit billigem Gewinn als grundlegendem Ziel richtet weiter Unheil an. Andererseits kann der Markt `ohne solidarische und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Handlungsweisen in seinem Inneren die ihm eigene wirtschaftliche Funktion nicht vollkommen erfüllen. Heute ist dieses Vertrauen verlorengegangen´. Damit hat die Geschichte nicht aufgehört, und die dogmatischen Rezepte der herrschenden Wirtschaftstheorie haben sich als fehlbar erwiesen. Die Zerbrechlichkeit der weltweiten Systeme angesichts der Pandemie hat gezeigt, dass nicht alles durch den freien Markt gelöst werden kann und dass – über die Rehabilitierung einer gesunden Politik hinaus, die nicht dem Diktat der Finanzwelt unterworfen ist – wir `die Menschenwürde wieder in den Mittelpunkt stellen müssen. Auf diesem Grundpfeiler müssen die sozialen Alternativen erbaut sein, die wir brauchen´.“(FT 168)
Ohne damit Verantwortliche in Politik und Wirtschaft von ihrer Verantwortung entlasten zu wollen, sieht Papst Franziskus ein wirksames Potential zur sozialen Transformation „von unten her“ in den sozialen Bewegungen, mit denen er in einem engen Kontakt steht. Auch in der neuen Enzyklika würdigt er sie als „soziale Poeten“, die kreativ eine ganzheitliche menschliche Entwicklung vorantreiben würden. Er fordert dazu auf, dass auch seitens der Wirtschaftstheorien deren Beitrag zur Volkswirtschaft und gemeinschaftlichen Produktion die ihnen gebührende Beachtung geschenkt wird. Es macht einen gravierenden Unterschied mit weitreichenden Konsequenzen, von welchem Standpunkt aus auf den Zustand der Welt geschaut wird, von dem der Mächtigen und Privilegierten oder von dem der arm gemachten und an den Rand gedrängten bzw. ausgeschlossenen Menschen.
Kirche und Kirchenreform kein Thema?
In Stellungnahmen zur Enzyklika aus kirchenreformerischen Kreisen wird vermisst, dass sich der Papst auch ausdrücklich mit der Kirche befasst. Dazu lässt sich bemerken, dass das in Sozialenzykliken kein Thema ist. Der Papst greift es kurz auf, wenn er Gott um die Stärkung der Einheit innerhalb der Kirche bittet (FT 280). Aber insgesamt kann man die Enzyklika auch so lesen, dass sie nicht zuletzt der Kirche einen Spiegel vorhält: Wie hält sie es mit der Gleichberechtigung der Frauen in ihren eigenen Reihen? Wie ist es um die Geschwisterlichkeit und Dialogkultur in der Kirche bestellt? Wie entschieden wird seitens der offiziellen Vertreter der Kirche und der Christ*innen für die Schaffung einer gerechten und nachhaltigen Weltordnung eingetreten und gegen die Widerstände dagegen angegangen? Wie sehr ist die Kirche um ihrer vermeintlichen Systemrelevanz willen bereit, ihr prophetisches Amt hintanzustellen und möglichst ausgewogen allen gerecht zu werden? Leicht lässt sich dieser Fragenkatalog ergänzen.
Nun wird gern der Standpunkt vertreten, es komme darauf an, dass allererst in der Kirche die fälligen Reformen durchgeführt werden müssten, damit sie dann sich glaubwürdig für notwendige Veränderungen in der Gesellschaft einsetzen könne. Die Gefahr ist jedoch, dass es aufgrund von unvereinbaren Positionen und Blockaden bei einem ständigen innerkirchlichen Ringen bleibt. Nach Papst Franziskus steht angesichts des ungerechten Zustands der Welt und besonders der Opfer, die er nach sich zieht, sprichwörtlich zu viel auf dem Spiel, als dass abgewartet werden könnte, dass die Kirche mit sich einigermaßen ins Reine gekommen ist. „Kirche im Aufbruch“ bedeutet für ihn, dass ihr vorrangiger Ort dort ist, wo Menschen ihrer Würde und Rechte beraubt werden, um solidarisch mit ihnen für ihre (Wieder-)Erlangung zu kämpfen. Wo sie diese „Option für die Armen“ lebt, erscheinen die innerkirchlichen Probleme als in heilsamer Weise relativiert. Das heißt nicht, dass sie für das kirchliche Wirken belanglos sind; die fälligen Hausaufgaben müssen gemacht werden. Aber die Blockaden, die dem in den Weg gestellt wurden und werden, erscheinen dann als das, was sie sind: kleingläubig.
Prof. Dr. Norbert Mette, Münster
norbert.mette@freenet.de
7. Oktober 2020
[1] Vgl. Johann Baptist Metz, Christliche Spiritualität in dieser Zeit, in: zur debatte 4/2013, 17-20.
Zuletzt geändert am 07.10.2020