Christian Weisner
30 Jahre Wir sind Kirche in Deutschland
Deutsches Manuskript für die Online-Veranstaltung "Celebrating 30 Years We Are Church"
am Samstag, 27. September 2025 von 13 bis 14:30 Uhr
mit Dr. Martha Heizer (Österreich), Christian Weisner (Deutschland) und Valerie Stroud (England)
> Video und Manuskripte
Ich beginne mit einem Dank an Euch, liebe Martha und liebe Österreicherinnen und liebe Österreicher, für Euer prophetisches Handeln vor 30 Jahren.
Wie hat es damals in Deutschland begonnen? Am 6. Juli 1995 las ich auf Seite 1 der Zeitung in meiner damaligen Heimatstadt Hannover vom phänomenalen Erfolg des Kirchenvolks-Begehrens in Österreich. Noch am selben Abend rief ich Bernhard Deflorian in Tirol an und erkundigte mich nach allen Details.
Natürlich hatten wir – ich gehörte damals zum Koordinierungskreis des bundesdeutschen Netzwerks „Initiative Kirche von unten“ – von der Unterschriftensammlung in Österreich gehört, aber noch nicht deren Brisanz erkannt. In Deutschland hatten wir damals keinen so prominenten Missbrauchsskandal wie den des Wiener Kardinals. Aber die Reformthemen waren in Deutschland schon seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der nachfolgenden „Würzburger Synode“ von 1971 bis 1975 in der Diskussion. Bei dieser deutschen Synode hatten sich schon damals Bischöfe und „Laien“ gemeinsam zum Beispiel für das Frauendiakonat ausgesprochen. Aber der Vatikan hat nie eine Antwort gegeben.
Schnell kamen wir im Sommer 1995 in Deutschland dann überein, den knappen Text aus Österreich eins zu eins zu übernehmen. Wir haben ihn nur um eine Präambel ergänzt, um das für Deutschland wichtige Thema Ökumene einzubeziehen. Manche Theologen rieten uns, die fünf österreichischen Forderungen noch einmal theologisch auszufeilen. Doch die zu erwartenden endlosen Diskussionen wollten wir vermeiden.
Gemeinsam mit Hans Küng eröffneten wir Mitte September 1995 in Köln das deutsche KirchenVolksBegehren – so wie Ihr in Österreich noch ohne Handy, ohne Internet und ohne die heute so einflussreichen „Sozialen Medien“. Dass 16 der 27 deutschen Diözesen das Sammeln von Unterschriften auf kirchlichem Gelände verboten hatten, war letztendlich eine kostenfreie Werbung für uns. Unvergesslich bleiben die lebhaften, auch kontroversen Diskussionen in vielen Kirchengemeinden und in den Medien. Nach acht höchst aktiven Wochen zählten wir am Ende 1.845.141 Unterschriften. Das war – bezogen auf die Zahl der Katholikinnen und Katholiken – übrigens ein etwa ebenso großer Anteil wie in Österreich.
Doch der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann, schrieb seinen Mitbrüdern: „Das KirchenVolksbegehren sei keine geeignete Methode und auch kein geeigneter Beitrag zur Klärung der angesprochenen Fragen, die wir im Übrigen nicht für die vordringlichsten in der heutigen Situation der Kirche halten würden. ...
Wir würden zwar gewiss über die Initiative nochmals sprechen, aber auf keinen Fall Beschlüsse der erwarteten Art fassen.“ Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, die offizielle Laien-Vertretung, warnte uns vor den Mühen der Ebene. Tatsache ist: In den vergangenen 30 Jahren hat sowohl ein Großteil der deutschen Bischöfe als auch das Zentralkomitee seine Positionen deutlich verändert, verändern müssen.
Aber wer hätte damals gedacht, dass aus dem 1995 in Österreich gestarteten ersten KirchenVolksBegehren, einer Unterschriftensammlung, eine weltweite Reformbewegung entstehen würde? Noch ein Jahr zuvor hatten Papst Johannes Paul II. und sein damaliger Glaubenspräfekt Joseph Ratzinger jede Diskussion über die Frauenweihe verboten. Ratzinger intervenierte mehrfach mit Geheimbriefen gegen Wir sind Kirche. Noch im Jahr 2001 stellte er sogar alle Fälle sexualisierter Gewalt weltweit bei Androhung der Exkommunikation unter das „päpstliche Geheimnis“, was erst durch Papst Franziskus aufgehoben wurde.
Das waren für uns mühsame Anfangsjahre. Aber wir blieben aktiv und vernetzten uns. Im Januar 1996 erhielten das österreichische und deutsche KirchenVolksBegehren den Herbert-Haag-Preis für Freiheit in der Kirche. In Deutschland formierten wir uns Anfang 1996 als KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche, die sich seitdem an allen Katholiken- und Kirchentagen aktiv beteiligt. Ende 1996 gründeten wir – Valerie wird darüber berichten – in Rom Wir sind Kirche International. Mit dem vom Vatikan abgestraften französischen Bischof Jacques Gaillot aus Évreux haben wir vieles gemeinsam gemacht, er war quasi „unser“ Bischof.
Zwei sehr besondere Aktivitäten in Deutschland: Als Antwort auf den vom Vatikan erzwungenen Ausstieg der deutschen Bischöfe aus dem staatlichen System der Schwangerschaftskonfliktberatung in Deutschland half Wir sind Kirche, den Verein „Frauenwürde“ zu gründen. Mit „Frauenwürde“ bauten katholische Frauen und Männer ein eigenes Beratungsnetz auf und betreiben es seitdem. Die zweite wichtige Aktivität: Lange vor den Bischöfen betrieb Wir sind Kirche von 2002 bis 2012 ein Not-Telefon, mit dem mehr als 400 von sexueller Gewalt durch Priester und Ordensleute betroffene Menschen beraten und begleitet wurden.
Bis die Amtskirche wirklich etwas gegen sexualisierte Gewalt unternommen hat, hat es – abgesehen von bischöflichen Leitlinien – vor allem für die Betroffenen viel zu lange gedauert. Bis heute lassen Entschädigung sowie in einigen Bistümern die Aufarbeitung immer noch zu wünschen übrig. Manche haben noch gar nicht damit begonnen. Nur häppchenweise wird Schuld eingestanden. Man beruft sich auf Verjährung oder erklärt die Kirche sei für das Privatleben der Priester nicht zuständig.
In Deutschland war es erst das Jahr 2010, in dem am Berliner Canisius-Kolleg der Jesuiten die jahrzehntelange vertuschte körperliche und spirituelle sexualisierte Gewalt innerhalb der katholischen Kirche nicht mehr zu leugnen war. Der daraufhin 2011 von den deutschen Bischöfen gestartete „Dialogprozess“ (Österreich lässt grüßen) verlief 2015 aber im Sande. Erst die nach schwierigen Anläufen von 2014 bis 2018 durchgeführte „Missbrauchsstudie“ im Auftrag der deutschen Bischöfe, die sogenannte MHG-Studie (benannt nach den Orten der Forschungsinstitute in Mannheim, Heidelberg, Gießen), rüttelte alle auf. Jetzt sahen sich die Bischöfe gezwungen, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken um Hilfe zu bitten. In gemeinsamer Verantwortung starteten sie den „Synodalen Weg“, der kirchenrechtlich keine Synode ist. Es ist ein Novum, manche sagen auch, ein Nullum. Denn seine Beratungen haben bislang keine Verbindlichkeit. Wir sind Kirche begleitet diesen Ende 2019 gestarteten höchst spannenden Prozess intensiv, ist selbst aber nicht Mitglied.
„Synodaler Weg“ in Deutschland und Weltsynode: Der „Synodale Weg“ umfasst die vier Themenbereiche „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche“, „Sexualität und Partnerschaft“, „Priesterliche Existenz heute“ und „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“. Die MHG-Studie hatte diese Bereiche als Risikofaktoren für „Missbrauch“ und Vertuschung erkannt.
Es sind genau die Themen, die – man könnte sagen: in prophetischer Weise – 1995 von Wir sind Kirche in Österreich als Antwort auf den Wiener Missbrauchsskandal formuliert wurden. Auch im Rahmen des 2021 von Papst Franziskus initiierten weltweiten synodalen Prozesses haben sich diese Themen als wichtige pastorale Fragestellungen herauskristallisiert. Bei den beiden Versammlungen der Weltsynode 2023 und 2024, bei denen erstmals auch Frauen mitberaten und mitentscheiden konnten, ist dies deutlich geworden. Wir sind Kirche International hat diese Weltsynoden intensiv in Rom begleitet, auch ich war dort mit dabei.
Gegenläufige Entwicklungen: Angesichts der erdrückenden klerikalen Machtverhältnisse und der Diskriminierung, die vor allem Missbrauchsbetroffene, Frauen und queere Menschen bis heute innerhalb der römisch-katholischen Kirche erfahren, kann dies als hoffnungsvolle Entwicklung gesehen werden. Doch die Relativierung der Reformschritte des Zweiten Vatikanischen Konzils durch Johannes Paul II. und Benedikt XVI. stärkte den Einfluss neo- und ultra-konservativer Kräfte in der Kirche. Die zunehmenden Strömungen vorgeblich bibeltreuer Evangelikaler und rechtskonservativer katholischer Kreise geben Anlass zu großer Sorge, denn sie sind eng auch mit rechten politischen Kräften vernetzt. Die Aussagen des zum Katholizismus konvertierten amerikanischen Vizepräsidenten JD Vance und der Hype um den ermordeten US-amerikanischen Influencer Charlie Kirk sind nur zwei höchst alarmierende Beispiele. Angesichts dieser neuen zerstörerischen Zeitgeister in aller Welt, die der Botschaft Jesu grundlegend widersprechen, ist unser Glaube und sind die Kirchen herausgefordert.
Papst Franziskus: Die dringend notwendige Wende brachte im März 2013 die Wahl des lateinamerikanischen Jesuiten Jorge Mario Bergoglio. In vielen großen und kleinen Schritten hat Papst Franziskus die Reformimpulse des Konzils wieder aufgenommen und weitergeführt. Trotz aller Widerstände vor allem im Vatikan hat er in zwölf Jahren die römisch-katholische Kirche grundlegender verändert, als es viele erwartet hatten. Mit der weltweiten Beteiligung der Kirchenbasis bei Synoden und dem Stimmrecht nicht nur für Bischöfe hat Papst Franziskus eine kirchengeschichtliche Wende eingeleitet, die große Hoffnungen und Erwartungen geweckt hat. Das darf nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Wiederentdeckung der Synodalität, der zu respektierenden Vielfalt und der Eigenverantwortung (Subsidiarität) durch Papst Franziskus sind auch starke prophetische Zeichen und Handlungsweisen angesichts des gefährlichen Anwachsens autokratischer Machtsysteme in der politischen Welt.
Papst Leo XIV.: Papst Leo XIV. hat nach seiner Wahl sofort versprochen, den von Papst Franziskus eingeleiteten Reformprozess fortzusetzen. Die Erwartungen an ihn sind hoch, manche seiner bisherigen Aussagen (z. B. das Verbot von Segensfeiern, die Aussagen zu Queeren und zur Familie sowie zum Diakonat der Frau) haben uns jedoch auch irritiert. Dies und die neo- und ultra-konservativen Kräfte sollten uns aber nicht mutlos machen. Unterstützen wir ihn, dass es ihm gelingen möge, die weltweit anstehenden Entscheidungen in synodaler Weise anzugehen. Vor allem die Ortskirchen sind jetzt gefordert. Doch da tut sich leider trotz des Auftrags des Abschlusspapiers der Weltsynode immer noch zu wenig – auch in Deutschland.
Vernetzung in Deutschland: In Deutschland hat sich Wir sind Kirche deshalb eng mit reformorientierten katholischen Verbänden sowie den in den vergangenen Jahren entstandenen Betroffeneninitiativen und neuen Reformgruppen wie Maria 2.0, Out in Church, OrdensFrauen für MenschenWürde oder Gemeinde- und Priesterinitiativen vernetzt.
Strategische Hoffnung: Damit Papst Leo erfolgreich Pontifex, d.h. „Brückenbauer“ sein kann, wird es weiterhin erforderlich sein, den auf dem Konzil aufbauenden reform-katholischen „Brückenpfeiler“ in alle Prozesse und Debatten einzubringen. Dass Vertreter:innen von Wir sind Kirche International auf Einladung des Vatikans an dem Synodentreffen im Rahmen des Heiligen Jahres in Rom teilnehmen werden, ist erstmalig. Wir brauchen eine strategische Hoffnung, nachhaltige Zuversicht und ein progressives, positives Narrativ. Eine Aufgabe, die Wir sind Kirche seit 30 Jahren gemeinsam mit vielen anderen weltweiten Reformkräften wahrnimmt. „Macht / Ohnmacht / Hoffnung“ ist der Titel deutschen Tagung zum 30-jährigen Bestehen von Wir sind Kirche Anfang November 2025 in Nürnberg, zu der wir herzlich einladen.
Nochmals danke, Österreich, dass Ihr uns den Anstoß gegeben habt, der über den Synodalen Weg in Deutschland jetzt bis hin zur Weltsynode und hoffentlich darüber hinaus Wirkung zeigt!
Christian Weisner, Mitinitiator des KirchenVolksBegehrens in Deutschland, Mitglied im Bundesteam der KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche und Mitbegründer von We are Church International E-Mail: weisner@wir-sind-kirche.de
30 Jahre KirchenVolksBegehren und Wir sind Kirche
www.wir-sind-kirche.de/30jahre
Martha Heizer, Christian Weisner: Aus Liebe zur Kirche und in Sorge um sie: 25 Jahre "Wir sind Kirche"
> Stimmen der Zeit 146 (2021) 145-153
Zuletzt geändert am 29.09.2025