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Veröffentlicht am 01­.05.2010

1.5.2010 - Kipa

"Ein trefflicher Steilpass Gottes"

Freiburg: Podium thematisiert Pädophilie und die Chancen der Kirche

Von Georges Scherrer / Kipa

Freiburg i.Ü., 1.5.10 (Kipa) Harte Worte fielen an der Podiumsdiskussion zum Missbrauch an Minderjährigen in Kirche und Gesellschaft, welche die Universität Freiburg (Schweiz) am Freitagabend, 30. April, veranstaltete. Der Einsiedler Abt Martin Werlen forderte, die Kirche müsse endlich die Kritik der Gläubigen an ihr ernst nehmen. Noch geniesse die Kirche viel Wohlwollen. Der deutsche Psychotherapeut Wunibald Müller erklärte, die Kirche müsse die Situation "schonungslos" ausleuchten, "auch wenn es weh tut", und sich in einen Läuterungsprozess einlassen.


Der Würzburger Psychotherapeut und Theologe Wunibald Müller forderte die Kirche auf, den "Prozess des Verschweigens an sich und des Verschweigens der zugefügten Wunden endlich zu brechen". Sie müsse genau hinsehen, "wo es nach potentiellem Missbrauch riecht", sagte er an der Veranstaltung, die gemeinsam vom Lehrstuhl für Moraltheologie und Ethik und vom Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Religionspädagogik der Universität Freiburg organisiert wurde. Der Aufmarsch der Interessierten war sehr gross.

Missbrauch könne in allen Fällen von Abhängigkeit entstehen, sei es bei Lehrern, Priestern, Eltern oder Novizenmeistern, meinte Müller. Die Macht könne missbraucht werden, um eigene sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen. Minderjährige, aber auch hilfesuchende Personen verfügten nicht über den "Reissverschluss", um sich vor einem Zugriff zu schützen.

Pädophile im Profil

Als pädophiliegefährdet bezeichnete der Therapeut "unreife Erwachsene", welche die Nähe von Minderjährigen beim Sport, in Schule, Lagern oder etwa in den Ferien suchten und mit ihnen gerne ihre Freizeit verbringen. Kinder und Jugendliche würden durch das "naive Verhalten" dieser Erwachsenen angezogen. Solche Erwachsene könnten keine "verbindliche Beziehung" zu anderen Erwachsenen eingehen und fühlten sich in Gruppen Gleichaltriger "inkompetent". Die Neigung könne nicht geheilt werden, aber man könne dem Betroffenen beistehen, sodass er mit ihr umzugehen lerne.

Müller rief die Kirche auf, sensibel für diese "Zeichen" zu sein. Sie dürfe nur Männer zum Priesteramt zulassen, die sich über die eigene sexuelle Neigung, sei sie nun heterosexuell oder homosexuell, im Klaren sind und "über diese auch reden". Zu überprüfen sei gleichzeitig die "psycho-sexuelle Vergangenheit" der Priesteramtsanwärter. Denn viele Täter seien selber Opfer von pädophilen Übergriffen gewesen. Speziell ausgebildete Fachpersonen könnten bei der Klärung dieser Fragen gute Dienste leisten. Im Übrigen gebe es in der Kirche im Vergleich zur Gesellschaft "überdurchschnittlich" viele homosexuelle Männer, die als Priester ihre Aufgaben aber ohne Problem wahrnehmen. Homosexualität sei nie gleichzusetzen mit Pädophilie.

Sprachlosigkeit und verängstigtes Schweigen

Der Psychotherapeut forderte ein "schonungsloses Ausleuchten" der aktuellen Situation und der Kandidaten. Der Nährboden für sexuellen Missbrauch müsse offen gelegt werden, "auch wenn es weh tut". Die "Sprachlosigkeit, die mit dem verängstigten Schweigen" zu tun habe, müsse überwunden und Tabuthemen angegangen werden. Dann werde man aber auch erkennen, dass viele Menschen, die in der Kirche arbeiten, dem Vertrauen gerecht werden, das ihnen entgegengebracht werde.

Frauenweihe und Wahrnehmung der Sexualität

So sei zu fragen, ob die Einführung des Priesteramtes auch für Frauen die Sichtweise der Kirche auf die Sexualität verändern und so die Gottebenbürdigkeit verwirklicht würde. Durch die Lockerung des Zölibats würde die Zahl jener Männer, "die sich mit ihrer Sexualität befasst haben" und Priester werden möchten, wesentlich grösser. Die Kirche müsse "die das Schweigen sichernden Strukturen" aufbrechen.

Es sei an der Zeit, eine "kindliche Vorstellung von Kirche" durch die reale Wahrnehmung zu ersetzen. Für die Kirche sei es ein Segen, dass die Opfer nun zu sprechen beginnen und so das Schweigen brechen. Die Kirche bleibe aber jene Institution, "die das Gottesgeschenk Sexualität verweigert". Die Kirche müsse sich auf den Läuterungsprozess einlassen und an dessen Ende "demütig" dastehen. Reue sei die Voraussetzung für Besserung und Verwandlung. Die Theologen sollten mutig und angstfrei die Themen aufgreifen.

Kirchenaustritt weist auf tief liegendes Übel hin

Der Einsiedler Abt Martin Werlen wies darauf hin, angesichts der Diskussion über Pädophilie dürfe nicht vergessen werden, dass auch Erwachsene unter den Opfern des sexuellen Missbrauchs in der Seelsorge seien. Und er überraschte die Zuhörer und Zuhörerinnen mit der Aussage, dass der grösste Teil der Missbrauchsfälle in der Schweiz durch "Kirchenmitglieder" geschähe - verübt nicht nur durch Priester und Ordensleute, sondern durch getaufte Katholiken.

Die katholische Kirche hätte schon viel früher die Zeichen der Zeit, so wie es das Zweite Vatikanische Konzil verlangt, erkennen sollen. Jene Personen, die heute der Kirche mit dem Hinweis auf die Pädophilie-Fälle den Rücken kehrten, verglich der Abt mit einem Dach voll Schnee, der schliesslich wegen einer einzigen Schneeflocke zum rutschen komme. In diesem Fall stehe der Schnee für alle Unzufriedenen und die Probleme, um welche sich die Kirche bis anhin nicht gekümmert habe. Insofern seien der Pädophilieskandale und die damit begründeten Kirchenaustritte "ein trefflicher Steilpass Gottes".

Nicht der Selbsttäuschung verfallen

Der Skandal habe in der Kirche das zum Vorschein gebracht, woran sie schon lange kranke. Sie müsse sich heute "ent-täuschen" und zurück zur Wirklichkeit finden. Der Abt sprach von Machterhalt. Die Kirche wolle "nicht auf das hören, was Gott uns sagt, sondern auf das, was sie durchsetzen will".

Verschiedene Kirchenführer hätten wiederholt erklärt, die Medien, welche den Skandal publik machten, wollten der Kirche schaden – was in gewissen Fällen auch der Fall sei, so der Abt. "Für uns sind nicht die Medien das Problem, sondern das, was zum Vorschein gekommen ist", mahnte der Benediktinerabt.

Chance nützen

Er zeigte sich erstaunt darüber, dass der Kirche trotz des weltweiten Skandals nach wie vor viel Wohlwollen entgegengebracht werde. Dieses dürfe die Kirche nicht verspielen, "kann es aber noch". Sie dürfe sich nicht der Selbsttäuschung hingeben, sondern müsse der Wirklichkeit in die Augen sehen. Verschiedene Kirchenverantwortliche in der Schweiz täten dies nicht, wurde aus dem Publikum kritisiert.

Kein Mann, der Priester werden wolle, werde so dumm sein, sich den Weg zur Weihe durch ein Geständnis zur Pädophilie zu verbauen, sagte der Abt weiter. Die Kirche müsse sich darum öffnen, so dass ein Betroffener, der in kirchliche Dienste treten wolle, über seine Neigungen sprechen könne. "Dann können wir ihm helfen, aber nicht, wenn er zum Schweigen gezwungen ist."

Mehr auf die nachkommende Generation hören

Die Kirche müsse den Mut haben, die "Sprache des Evangeliums zu sprechen". Und dazu gehöre, dass sie vermehrt auf die jungen Menschen und ihren Rat hört. "Aber wir haben kaum junge Menschen, die in den Gremien sitzen, mitberaten und mitentscheiden, sodass sie die Verantwortung mittragen". Die Kirche müsse darum die Jugend in die Verantwortung einbinden, damit "wir die Zeichen der Zeit erkennen".

Zuletzt geändert am 02­.05.2010