| |
Veröffentlicht am 01­.09.2008

1.9.2008 - taz.de

Katholische Kirche in Lateinamerika:. Die Befreiungstheologie wird 40

von Gerhard Dilger

1968 trafen sich die katholischen Würdenträger Lateinamerikas im kolumbianischen Medellín. Mit ihrer Hinwendung zu den Armen schrieben sie seither Geschichte.
Gedenken an Óscar Romero, dem Erzbischof von San Salvador, der 1980 ermordet wurde.


1968 trafen sich die katholischen Würdenträger Lateinamerikas im kolumbianischen Medellín. Mit ihrer Hinwendung zu den Armen schrieben sie seither Geschichte. In Ecuador und Paraguay sind heute zwei Linkskatholiken im Präsidentenamt. Die "Kirche von unten" hat vieles verändert.

Landauf, landab erinnern derzeit katholische Theologen in Lateinamerika an die Bischofskonferenz von Medellín, die sich 2008 zum 40. Mal jährt. Auch wenn damals die griffige Formulierung von der "Option für die Armen" noch nicht wörtlich in den Schlussdokumenten auftauchte: Die Versammlung der 146 Bischöfe in Kolumbien im August und September 1968 gilt als Geburtsstunde der Theologie der Befreiung, die sich bald zum Ärgernis für den Vatikan und für das Establishment in Lateinamerika auswachsen sollte.

An der Jesuiten-Universität Unisinos im südbrasilianischen São Leopoldo zieht Paulo Suess dieser Tage Fazit. "Medellín war der Beginn einer lateinamerikanischen Kirche im Gegensatz zur kolonialen Missionskirche", sagt der siebzigjährige deutsch-brasilianische Befreiungstheologe rückschauend.

Damals hatten die Bischöfe klar wie nie zuvor erklärt: "In Lateinamerika herrscht institutionalisierte Gewalt. Ganzen Bevölkerungsschichten fehlte es am Nötigsten …" Sie forderten, die Kirche müsse "alle Anstrengungen des Volkes zur Bildung und Entwicklung eigener Basisorganisationen unterstützen".

Die Konferenz von Medellín knüpfte an das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) an. Papst Johannes XXIII. hatte die Emanzipation der Arbeiter, der Frauen und der kolonisierten Völker als "Zeichen der Zeit" erkannt und die Modernisierung der Kirche ausgerufen. Medellín bedeutete jedoch einen Perspektivwechsel: Die fortschrittlichen Bischöfe gingen nicht mehr von den zögerlichen Vorgaben Roms aus, sondern von den Realitäten des Subkontinents.

"Natürlich hat sich die Kirche in Medellín an den gesellschaftlichen Aufbruch angehängt", sagt Suess. 1968 in Lateinamerika: Das war revolutionärer Überschwang im Gefolge der kubanischen Revolution und ihres Märtyrers Ernesto Che Guevara, aber auch der Widerstand der brasilianischen StudentInnen gegen die Militärdiktatur und eine breite Auflehnung gegen die Autoritäten.

"Damals entstand unter vielen Katholiken der Wunsch, die Bevölkerung möge die Lösung ihrer irdischen Probleme selbst in die Hand nehmen", fasst der Kapuziner Luiz Carlos Susin zusammen. Auf dem Lande und in städtischen Armenvierteln bildeten sich Basisgemeinden.

Leonardo Boff, der in München promoviert hatte, erkannte bei seiner Rückkehr nach Brasilien, dass seine Gemeindemitglieder mit "dem hochgescheiten Zeugs aus Deutschland" nichts anfangen konnten. Mit seinem Buch "Jesus der Befreier" (1972), so sieht er es heute, vollzog er den Schritt "von der erlernten Theologie der modernen Welt zu einer Theologie der Welt der Armen".

Weitere theologische Vordenker wie der Peruaner Gustavo Gutiérrez wurden schon bald als Marxisten attackiert. "Oft war das bloß ein Vorwand, um mögliche Veränderungen in der Kirche von vornherein abzublocken", meint Suess.

"Aber das Entscheidende waren nicht die Texte, sondern das Handeln. Und da gab es Kirchenleute, die den Mächtigen so gefährlich wurden, dass sie beseitigt wurden", wie etwa Erzbischof Óscar Romero, der 1980 nach einer Predigt in der Kathedrale von San Salvador ermordet wurde. Ohne die Basischristen, die vielerorts den sozialen Widerstand bis heute organisieren, wäre auch Brasiliens Landlosenbewegung MST kaum entstanden.

In den Achtzigerjahren belegten Johannes Paul II. und Joseph Kardinal Ratzinger dann Leonardo Boff mit einem Schweigegebot. Folgenreich war auch die Personalpolitik des Vatikans bei der Nominierung neuer, konservativer Bischöfe und Kardinäle. Parallel dazu wuchs der Einfluss fundamentalistischer Pfingstkirchen aus den Vereinigten Staaten. Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und den Niederlagen der Linken in Brasilien und Nicaragua geriet die Theologie der Befreiung weiter in die Defensive.

In der "Inkulturationstheologie" nahm sie ab den Neunzigerjahren indigene und afroamerikanische Traditionen auf. Boff entwickelte eine "Ökotheologie". "Die feministische Theologie ist die stärkste Stimme der neueren Strömungen", sagt Luiz Carlos Susin heute, "in den Basisgemeinden waren die Frauen schon immer die treibende Kraft."

Mit dem Ecuadorianer Rafael Correa und dem Exbischof Fernando Lugo in Paraguay wurden nun sogar zwei Linkskatholiken zu Präsidenten gewählt. "Doch die Befreiungstheologie raubt heute niemandem mehr den Schlaf", sagt Paulo Suess. "Das kritische Engagement in Kirche und Gesellschaft hat nachgelassen, und die sozialen Bewegungen sind teilweise ins Regierungslager gewechselt."

Die Regierungen in Bolivien, Ecuador, Paraguay und Venezuela vergleicht Suess mit Don Quijote: "Sie hauen mit ihren Lanzen gegen eine dicke Mauer und halten damit die Hoffnung am Leben, dass diese Mauer eines Tages einstürzen könnten."

Zuletzt geändert am 08­.09.2008