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Veröffentlicht am 25­.02.2011

25.2.2011 - Süddeutsche Zeitung

Die Angst vor der Freiheit

Warum die katholische Kirche aufhören muss, die Moderne als Bedrohung zu verstehen

Außenansicht von Alois Glück

Das Jahr 2011 wird für die katholische Kirche in Deutschland von entscheidender Bedeutung für ihren weiteren Weg sein. Wird es das Jahr der fruchtbaren Aufarbeitung des großen Vertrauensverlustes – oder erleben wir eine neue Welle der Frustration, der Enttäuschungen und in der Folge eine noch größere Abwanderung in die Distanz, eine neue Austrittswelle?

Aus heutiger Sicht ist der Ausgang offen. Es gibt immerhin Hoffnungszeichen wie die gemeinsame Studientagung mit der Bischofskonferenz und den geplanten Dialogprozess – aber auch die Abwehr aller Bemühungen um Veränderungen. Wie kann ein konstruktiver Weg gefunden werden?

Erstens: In unserer Kirche muss eine Debatten- und Streitkultur auf der Basis gegenseitigen Respekts entstehen. Wenn wir dazu unfähig sind, liefern wir ein weiteres Beispiel der Unglaubwürdigkeit unserer Reden, unserer Botschaften und der oft sehr rigorosen Forderungen und Erwartungen der Kirche an die Menschen. Was ist es dann wert, wenn wir von Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Würde des Menschen und vom „christlichen Menschenbild“ reden? Wir müssen lernen, dass Meinungsverschiedenheiten und auch Streit in der Sache nicht eine Gefährdung der Kirche sind, sondern ein Weg des Heiligen Geistes für Erneuerung und Weiterentwicklung. Nicht die Meinungsverschiedenheit, der Streit um den richtigen Weg ist das Problem, dies begleitet die Kirche seit dem Apostelkonzil, also von Anfang an. Es geht um den Geist der Auseinandersetzung. Wenn wir dies innerkirchlich nicht schaffen, haben wir auch der Welt nichts Glaubwürdiges mehr zu sagen.

Zweitens: Wenn wir wieder Vertrauen gewinnen wollen, dürfen wir nicht die innerkirchliche Befindlichkeit in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen die Perspektive der Verletzten und Enttäuschten kennen. Die Schockerfahrung der sexuellen Gewalt in der Kirche hat an einem Punkt bereits zu einer entscheidenden Richtungsänderung geführt: Die Opfer rückten in den Mittelpunkt, der einzelne Mensch stand im Zentrum, nicht ein falsch verstandener Schutz der Institution Kirche, als sei sie Selbstzweck. Vertrauen ist unauflöslich mit Glaubwürdigkeit verbunden, Glaubwürdigkeit geht verloren, wenn die Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu groß werden. Voraussetzung für Vertrauen sind ebenso Transparenz, Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen und der richtige Umgang mit Macht und Machtausübung.

Drittens muss die katholische Kirche mehr als bisher Vielfalt bejahen. Im Interviewband „Salz der Erde“ antwortete Kardinal Ratzinger auf die Frage, wie viele Wege zu Gott es gebe: „So viele, wie es Menschen gibt.“ Gottesbeziehung und Glaubensweg sind mit persönlicher Prägung und dem eigenen Lebensweg eng verbunden. Ein großer Reichtum unserer Kirche ist die Vielfalt der Frömmigkeitsstile, der Glaubenswege, des individuellen und gemeinschaftlichen geistlichen Lebens. Die Vielfalt ist eine große katholische Tradition, etwa in den Orden; theologisch gesehen ist sie ein Zeichen für das Wirken von Gottes Geist in seiner Kirche. Dem darf nicht mit Angst begegnet werden. Eine neue Sensibilität und Offenheit ist auch für all die Suchenden und Zweifelnden notwendig und all diejenigen, deren Lebenswelten uns schwer verständlich sind. Der gegenwärtige Konflikt in der katholischen Kirche kommt auch daher, dass bestimmte Ausprägungen festzulegen beanspruchen, was katholisch ist, das Andere wird ausgegrenzt. Wohlgemerkt, es geht dabei nicht um die Grundlagen des Glaubens, sondern um die Vielfalt der Gottesbeziehungen und des Glaubenslebens.

Viertens: Die Vertiefung des Glaubens und Reform von Strukturen sind kein Gegensatz. Natürlich lösen Strukturveränderungen nicht automatisch die Probleme der Kirche. Aber die Kirche wird über ihre Strukturen erlebt, und sie lebt in diesen Strukturen. Sie sind die Behausung, der Raum für die innere Entwicklung. Sich nur auf Strukturen zu fixieren, wäre freilich tatsächlich nur eine vordergründige „Modernisierung“ der katholischen Kirche. Ihre künftige Ausstrahlung und Anziehungskraft wird wesentlich bestimmt sein von ihrer geistlichen Kraft und Ausstrahlung, die wiederum mit Personen und Gemeinschaften und deren Wirkung auf Menschen verbunden ist.

Fünftens: Die Krise der Kirche ist im Kern die nun schon Jahrzehnte währende Krise der Glaubensverkündigung. Sie begann mit dem Wandel der Gesellschaft in den sechziger Jahren. Die wachsende soziale und räumliche Mobilität, die allmähliche Auflösung der Bindekraft der Milieus veränderten das Denken der Menschen und ihre Ansprüche an die Gemeinschaft. Dies waren keineswegs nur negative Entwicklungen, wie ein verbreiteter Kulturpessimismus in unserer Kirche glaubt. Für das kirchliche Leben bedeutete dieser Wandel eine grundlegende Veränderung der Situation der Kirche als dominante Macht gegenüber dem Einzelnen und in Gesellschaft und Staat. Bedurfte es früher einer bewussten Entscheidung, um sich aus der kirchlichen Ordnung zu lösen, so ist es heute die genau umgekehrte Situation. Der Glaube war vor allem ein Gehorsamsglaube, stark von Einordnung und Unterordnung geprägt; der Herausforderung, sich den Glauben bewusst anzueignen, mussten sich nur jene stellen, die etwa vom Land in die Stadt zogen. Die Kirche hat diesen Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen und der Lebenssituation und der Haltungen des modernen Menschen zu wenig aufgenommen und angenommen. Sie hat darin mehr Gefahren gesehen als die Möglichkeit des Christenmenschen, sich frei für seinen Glauben, für seine Kirche zu entscheiden. Noch heute ist diese Angst vor der Freiheit der Menschen zu spüren.

Sechstens: Das Zweite Vatikanische Konzil hat sich der Moderne gestellt. Die Dokumente und Orientierungen dieses Konzils mit der Einbeziehung der Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte in der Kirche, in der Gesellschaft und der globalen Welt sollten die allgemein akzeptierte Grundlage sein. Das anstehende 50. Jubiläum des Beginns des Konzils ist dafür ein naheliegender Bezugspunkt. Denn das Konzil hat gezeigt: Die Kirche ist nicht nur Menschenwerk; an menschlichen Maßstäben gemessen, müsste sie längst untergegangen sein. Vor 50 Jahren ist sie aber voller Gottvertrauen aufgebrochen – ein Gottvertrauen, dass Katholiken auch heute haben sollten.

Zuletzt geändert am 25­.02.2011