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Veröffentlicht am 24­.07.2008

24.07.1995 - Focus

Lawine losgetreten

VOLKSBEGEHREN
Eine bundesweite Unterschriftenaktion soll die katholische Kirche zu Reformen bewegen

Von Susann Hellwig und Maria von Schildgen

Die Reaktionen kamen prompt. So prompt, daß Christian Weisner binnen einer Woche sein Wohnzimmer in der hannoverschen Südstadt zur Koordinationszentrale für das erste deutsche Kirchenvolksbegehren umgestalten mußte. „Ich scheine eine Lawine losgetreten zu haben. Täglich kommen Anrufe und Briefe, versprechen uns Verbände ihre Unterstützung“, sagt der Initiator.

Der Termin steht. Vom 16. September bis 12. November dauert das Referendum für Reformen in der römisch-katholischen Kirche. „Höchste Zeit“, so Weisner, der seit vielen Jahren in einer katholischen Basisgruppe mitarbeitet. In Deutschland grummelt es seit 20 Jahren.

Die zentralen Forderungen:

Mitsprache der Ortskirchen bei Bischofsernennungen;

freie Wahl des Zölibats für Priester;

keine Gleichsetzung von Abtreibung und Verhütung;

keine pauschale Verurteilung der Homosexualität.

Österreich hat es vorgemacht. Aufgewühlt durch die angebliche Sex-Affäre des Erzbischofs Groer, erbrachte das dortige Volksbegehren im Juni 500 000 Unterschriften, die dem Vatikan übergeben wurden. „Österreich hat uns Mut gemacht“, bekennt Weisner, „wir wollen keine neue Kirche, sondern nur den Reformstau auflösen.“

Prominente Katholiken sollen dabei helfen: Boris Becker und Margarethe Schreinemakers haben ebenso wie Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin Teufel Post erhalten.

Zweifel, daß ausreichend Unterschriften zusammenkommen, hegt die Deutsche Bischofskonferenz: „Um Erfolg zu haben, müßten es mindestens 2,5 Millionen Unterschriften sein“, blockt Sprecher Rudolf Hammerschmidt ab.

Keinen Grund für ein Referendum sieht auch Rita Waschbüsch, Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken: „Mehr bewegen können die, die innerhalb der vorhandenen Strukturen bereit sind, in kritisch-wohlwollender Loyalität Verantwortung mitzutragen.“

Die Zahlen sprechen für Reformen: 153 000 Kirchenaustritte jährlich, Tendenz ungewiß. Mehr als ein Drittel der katholischen Pfarrgemeinden muß inzwischen ohne eigenen Pfarrer auskommen. Immer mehr Priester legen ihr Amt nieder – seit 1965 rund 8000.

Zum Beispiel Reimund Becker. Er war Vikar im Sauerland. Pfingsten ist Becker wegen des Zölibats von seinen Pflichten zurückgetreten. „Es war die Sehnsucht nach menschlicher Wärme“, erklärt der 33jährige seinen Entschluß.

Er heiratet im Herbst die Kindergärtnerin Anne Badzun. Becker: „Wir hätten uns ergänzen können. Das Weltfremde des Apparates der katholischen Kirche ist unhaltbar geworden. Man wird sich irgendwann dem modernen Leben beugen müssen.“

In diese Kerbe schlägt auch Initiator Weisner, der zusammen mit zwei weiteren Laien die Aktion koordiniert. Die „Kluft zwischen Leitung und Volk“ könne nur überbrückt werden, wenn der Vatikan wieder auf seine Christen höre. Seine Hoffnung: „Vielleicht bleiben durch das Volksbegehren einige Menschen mehr in der Kirche.“

„Damit die Kluft zwischen Leitung und Volk überbrückt werden kann, muß der Vatikan auf seine Christen hören“ CHRISTIAN WEISNER, INITIATOR DES VOLKSBEGEHRENS

DER SCHWUND DER SCHÄFCHEN

Katholiken in der BRD 28 Mio.

Kirchenaustritte 1993 153.753

Priesteraustritte seit 1965* 8000

* derzeit sind 19 194 Priester im Amt

Zuletzt geändert am 19­.11.2008