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Veröffentlicht am 31­.07.2014

31.7.2014 - Christ & Welt

Das Gottesvolk ist unfehlbar

REFORM Franziskus kritisiert die klerusfixierte Kirche. Der gelebte Glaube ist ihm wichtiger als das Nachbeten von Glaubenssätzen. Doch weder Amtsträger noch Laien greifen seine Ideen auf

Von Hans Waldenfels

In der katholischen Kirche kostet es die Lehrerlaubnis, an der Unfehlbarkeit des Papstes zu zweifeln. Nun ist da ein Papst, der sagt: „Das Ganze des Gottesvolks ist unfehlbar.“ Es ist wie am Tag seiner Wahl im März 2013, eine scheinbar verkehrte Welt. Franziskus trat auf die Loggia von Sankt Peter, begrüßte das Volk mit „Buona sera“ und bat um den Segen der Leute, ehe er seine Hände ausbreitete und den Segen „urbi et orbi“, der Stadt und dem Erdkreis, spendete. Viele seiner argentinischen Predigten und Ansprachen für Lehrer, Katecheten und Verkünder des Glaubens beendete er mit Sätzen wie „Beten Sie immer für mich, dass ich ein guter Katechet sein kann. Jesus möge Sie segnen und die Heilige Jungfrau Sie beschützen!“

Unfehlbarkeit des Gottesvolks – was könnte das heißen? Das Wort benutzte er als Papst erstmals in dem Interview mit seinem Ordensbruder Antonio Spadaro für die Zeitschrift der Jesuiten. Er wiederholt es in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“. Er hatte davon bereits in Argentinien gesprochen. Spadaro fragte ihn nach seinem Bild von Kirche, und Franziskus erinnerte lebhaft an das letzte Konzil. Ihm, der aus dem Volk kommt und sich dem Volk verbunden fühlt, leuchtet das Bild vom wandernden Gottesvolk in der Wüste sehr ein. Für ihn gilt, wenn er von Kirche spricht: „Man muss ganz unten anfangen“, also nicht beim Papst, bei den Bischöfen, beim Klerus, sondern beim Volk.

„Volk Gottes“ heißt im Griechischen „laos tou theou“ (nicht „demos“, wovon sich die „Demokratie“ ableitet). Von „laos“ kommt unser Begriff „Laie“. Mit diesem Wort sind folglich alle Glieder des Volkes Gottes, alle Getauften, gemeint. „Laie“ ist also ursprünglich die umfassende Kategorie, die alle Christen meint und auch die spätere Zweiteilung von „Klerus und Laien“ umspannt. Darauf macht der Papst als Erstes aufmerksam, wenn er sagt: „Das Volk ist das Subjekt. Die Kirche ist das Volk Gottes auf dem Weg der Geschichte – mit seinen Freuden und Leiden. Fühlen mit der Kirche bedeutet für mich, in dieser Kirche zu sein. Und das Ganze der Gläubigen ist unfehlbar im Glauben.“ Er fügt in dem Interview mit Spadaro ausdrücklich hinzu: „Es ist also kein Fühlen, das sich auf die Theologen bezieht.“

Die Zweiteilung von Klerus und Laien kam später, als die verschiedenen Begabungen und Funktionen in der Gemeinde ins Bewusstsein traten. Der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer hat kürzlich vorgeschlagen, das abwertend klingende Wort „Laie“ durch „Weltchrist“ zu ersetzen. Was der Papst mit seinen Ausführungen zum Volk in Erinnerung ruft, kann jedoch nicht, wie Voderholzer meint, mit einem neuen Kunstwort überspielt werden. Denn haben nicht alle Getauften in gleicher Weise einen Weltauftrag? Können sich die „Amtsträger“, die ihrerseits im Dienste des Ganzen tätig zu sein haben, vom Sendungsauftrag in die Welt dispensieren und sich in den reinen Binnendienst der Kirche zurückziehen?

Papst Franziskus tadelt nicht umsonst eine Kirche, die sich auf sich selbst zurückzieht und sich in dieser Selbstgenügsamkeit gefällt. Er lässt in seinem Tadel die Leitungsträger der Kirche nicht aus. Viele Bischöfe erinnern sich an das berühmte Wort des heiligen Augustinus: „Für euch bin ich Bischof, mit euch bin ich Christ.“

Bei alldem geht es keineswegs um eine Erfindung des jetzigen Papstes. Er beruft sich ausdrücklich auf die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils: „Das heilige Volk Gottes nimmt auch am prophetischen Amt Christi teil, indem es sein lebendiges Zeugnis vor allem durch ein Leben des Glaubens und der Liebe verbreitet und Gott das Lobopfer darbringt.“ Und weiter: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben, kann im Glauben nicht fehlgehen, und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie mittels des übernatürlichen Glaubenssinns des ganzen Volkes immer dann kund, wenn sie ‚von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien‘ (Augustinus) ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert.“

Dem Gesagten gibt Franziskus aber in „Evangelii gaudium“ einen eigenen Akzent. Dort spricht er nicht ängstlich von den sprachlichen Äußerungen des Glaubens; vielmehr erklärt er das „unfehlbar im Glauben“ so: „Das bedeutet, dass (das Volk), wenn es glaubt, sich nicht irrt, auch wenn es keine Worte findet, um seinen Glauben auszudrücken. Der Geist leitet es in der Wahrheit und führt es zum Heil.“

Doch wie kann es einen Glauben geben, der keine Worte mehr findet? Franziskus erläutert, was er meint, indem er in aller Kürze aufzeigt, wie sich die drei grundlegenden christlichen Haltungen Glaube, Hoffnung und Liebe bei einfachen Menschen auch jenseits klarer Worte entdecken lassen.

Glaube: „Ich denke an den festen Glauben jener Mütter am Krankenbett des Sohnes, die sich an einen Rosenkranz klammern, auch wenn sie die Sätze des Credos nicht zusammenbringen.“ Hoffnung: „Ich denke an den enormen Gehalt an Hoffnung, der sich mit einer Kerze verbreitet, die in einer bescheidenen Wohnung angezündet wird, um Maria um Hilfe zu bitten.“ Liebe: „Ich denke an jene von tiefer Liebe erfüllten Blicke auf den gekreuzigten Christus.“

Diese schlichten Haltungen, die er im einfachen Volk entdeckt, kann er nur so deuten: „Wer das heilige gläubige Volk Gottes liebt, kann diese Handlungen nicht einzig als eine natürliche Suche des Göttlichen ansehen. Sie sind der Ausdruck eines gottgefälligen Lebens, beseelt vom Wirken des Heiligen Geistes, der in unsere Herzen eingegossen ist.“ („Evangelii gaudium“)

„Unfehlbar im Glauben“ besteht hier also nicht im korrekten Aussprechen von Glaubenssätzen, sondern in der gelebten Glaubenspraxis. Im theologischen Jargon gesagt: Entscheidend ist nicht die Orthodoxie, also die korrekte Wiedergabe von Glaubensaussagen, sondern die Orthopraxie, der praktische Vollzug des Glaubens. In der Gerichtsrede des Matthäusevangeliums werden Menschen am Ende nicht nach den Bekundungen ihrer Frömmigkeit beurteilt, sondern nach dem, was sie den „Geringsten“ unter den Mitmenschen getan haben.

Was der Papst zur Sprache bringt, ist kein neuer Glaube, wohl aber eine erneuerte Blickweise, die allen Menschen der Glaubensgemeinschaft Raum gibt und selbst diejenigen nachdenklich stimmen müsste, die die Kirche skeptisch und ablehnend betrachten. Sie zwingt die, die in der Kirche das Sagen haben, sich zu fragen, ob sie ihre Stellung nicht häufig fälschlich ausnutzen. Drängen sie sich selbst nicht zu sehr in den Vordergrund? Machen sie das Volk nicht oft mundtot, anstatt es sprachfähig zu machen, sodass es die Frohe Botschaft leben und künden kann? Kurz: Wird nicht häufig unter der Hand aus dem Dienst in falscher Weise Macht und Herrschaft, am Ende gar Unterdrückung?

Eines der neueren Papstbücher trägt den Titel „Die wahre Macht ist der Dienst“. Diese Sicht Jesu steht allerdings immer wieder in der Gefahr, dass sie sich unter der Hand in ihr Gegenteil verkehrt. Das Wort „Laien“ wird am Ende pejorativ verstanden, als seien sie unmündige Subjekte, schließlich sogar Objekte der Betreuung durch Amtsträger. Gerade einen solchen Zustand will Papst Franziskus in der Kirche überwunden sehen.

Indem Franziskus die Unfehlbarkeit des Gottesvolkes betont, erteilt er der Unfehlbarkeit des Papstes, wie sie im Ersten Vatikanischen Konzil formuliert ist, jedoch keine Absage. Doch Unfehlbarkeit bedeutet eben nicht, dass der Papst fehlerlos ist, dass alles, was er sagt, als richtig zu gelten hat und widerspruchslose Zustimmung erfordert. Das Erste Vatikanische Konzil hat die Ausübung der päpstlichen Unfehlbarkeit an sehr klar beschriebene Bedingungen geknüpft.

Man sollte sich daran erinnern, dass seit der feierlichen Verkündigung der Aufnahme Mariens in den Himmel 1950 durch Pius XII. kein Papst mehr den Anspruch erhoben hat, etwas „unfehlbar“ zu verkünden, und dass Johannes XXIII. für das von ihm angekündigte Konzil ausdrücklich angekündigt hat, dass keiner seiner Beschlüsse von vornherein diesen Anspruch erhebe.

Papst Franziskus selbst bindet sein Amt in hohem Maße zurück an die Gemeinschaft der Bischöfe und schließlich an das Gottesvolk. Er bemüht sich, so weit möglich mit und unter den Menschen zu leben und die Gefangenschaft und Isolation, in der eine Reihe seiner Vorgänger gelebt hat, aufzubrechen beziehungsweise erst gar nicht zuzulassen. „Unfehlbarkeit des Gottesvolkes“ heißt im anderen Extrem allerdings nicht: Jeder kann machen, was er will. Papst Franziskus kennt besser als wir in Europa die Praxis der Basisgemeinden, ihrer Stärken, aber auch ihrer Gefährdungen. Schon als Bischof in Argentinien hat Jorge Bergoglio vor der „stets drohenden Versuchung zu systematischer Kontestation und überzogener Kritik“ gewarnt. Wichtig ist ihm, dass wir uns in allem dem Ganzen verpflichtet fühlen und niemals sektiererisch werden.

Manche Reaktionen wie etwa Eucharistiefeiern ohne autorisierten Vorsteher sollten allerdings eher als Signal der Ungeduld verstanden werden. Solchen Signalen mit dem Ausspruch der Exkommunikation zu begegnen ist zu wenig. Man kann nicht immer wieder von der sonntäglichen Eucharistie als dem Höhepunkt der Liturgie sprechen und zur selben Zeit untätig hinnehmen, dass immer mehr Gläubigen die Teilnahme an einer Eucharistiefeier aufgrund von angeblichem Priestermangel nicht möglich ist.

Die Bischöfe in Deutschland versuchen sich fast durchweg mit dem Priestermangel zu arrangieren, indem sie Großgemeinden schaffen. Diese Strukturreformen sind viel zu klerikalistisch orientiert und widersprechen den Anstößen des lateinamerikanischen Papstes, die Kirche von unten aufzubauen. Warum macht sich kein deutscher Bischof den Appell von Bischof Erwin Kräutler zu eigen, der den Papst um eine Auflösung des Zölibats in seinem Bistum am Amazonas gebeten hat? Hier fehlt es nach wie vor an einem offenen Gespräch zwischen Bischöfen und Gottesvolk.

Der Jesuit Hans Waldenfels war Professor für Theologie in Bonn. Er lehrte zudem in Moskau, Rom und Bangalore. Zuletzt erschien von ihm: Sein Name ist Franziskus. Schöningh, Stuttgart 2014. 159 Seiten, 19,90 Euro.

http://www.hans-waldenfels.de/download/gottesvolk.pdf

Zuletzt geändert am 06­.05.2015