Der Brückenschlag oder: es kann auch ins Auge gehen

 von Willi Mitzkewitz

Die Zukunft hat schon begonnen

Pauline war weggeschwommen und kehrte nicht mehr zurück. Traurigkeit, aber auch ein klein wenig Hoffnung breiteten sich unter den Stichlingen aus. Auch die Oberkarpfen hatten mitbekommen, daß einer das Rinnsal verlassen und den Weg in den Strom gefunden hatte. Ratlosigkeit und Unsicherheit herrschte unter den Karpfen.

“Wenn das Schule macht, ist unser Rinnsal im Nu entfischt und alle Mühe von Jahrhunderten war umsonst”, meinte der Oberkarpfen. Auf einem außerordentlichen Concilium beschlossen die Karpfen und ließen folgendes verkünden: “Hiermit wird allen Fischen kundgetan, daß alle sofort zu einem Sondereinsatz berufen werden. Im Interesse unserer Fischgemeinschaft, unserer alten, gemeinsamen Tradition wollen wir eine Brücke über den großen, gefährlichen Strom bauen! Alle sollen von dort die Gefährlichkeit des großen Stromes sehen.”

Nun sah man die Fische schuften; in langen Kolonnen wurde das Material herbeigeschafft. Eifrig wachten die Oberkarpfen darüber, daß jeder fleißig arbeitete und keiner zum Nachdenken kam. Den Erfolg konnte man bald sehen: Eine prächtige Brücke – in Arbeitsbeschaffungsprogrammen verstanden sich die Oberkarpfen – wölbte sich über den breiten Strom. Aber vorerst durfte keiner die Brücke betreten, die Transzendenzhechte hatten Wache bezogen.

Die Oberkarpfen setzten als Einweihungs- und Begehungstag das Erinnerungsfest an den ‚besonderen Fisch‘ fest. Nun sollten die Fische selber sehen, wie gefährlich der Strom sei. Sie sollten in der Ferne die tödlichen Stromschnellen schauen. So hofften die Oberkarpfen ein für allemal Ausbruchsversuche zu unterbinden. –

Am Morgen des Festtages sah man lange Fischkolonnen auf die Brücke zuwandern. In der Stichlingsfamilie gab es noch eine lebhafte Diskussion. Vater Stichling meinte: “Nicht, daß uns das sauerstoffarme Wasser des Rinnsals seit Jahrhunderten zugemutet wird, müssen wir jetzt auch noch aus unserer erbärmlichen Lebenswirklichkeit aussteigen, um uns ganz aufzugeben!” Sohn Franz entgegnete: “Bevor ich mich von den Transzendenzhechten verschlingen lasse, gehe ich lieber auf die Brücke.” Vater Stichling: “Na gut! Aber für alle Fälle nehme ich eine Flasche Rinnsalwasser mit, Sicher ist sicher!” –

Da Vater Stichling schon etwas wackelig war, faßten ihn Franz und Josefine unter die Flossen; nach Sauerstoff schnappend kam man auf der Brücke an. Jetzt zeigte sich ihren Fischaugen die ganze Herrlichkeit des großen Stromes: klares und sauerstoffreiches Wasser floß schnell und sprudelnd nach Süden. In der Ferne sahen sie das heftig schäumende Wasser der Stromschnellen.

“Dort muß Sauerstoff in Menge sein,” meinte Josefine. Aber all das wurde noch übertroffen von dem herrlich klaren, silberblauen See in der Ferne. “Was war das?” – Unten im Strom glänzte es kurz silbrig auf und dann erschien ein kleiner Fischkopf über den Fluten. Und schon brüllte Franz: “Da unten ist unser Paulinchen!”

“Kinder, Kinder, unsere Pauline,” murmelte Vater Stichling. Da tönte schon ihr Ruf: “Springt, Freunde! Nur Mut! Habt Mut! Springt aus der Enge in die Freiheit!” “Aber Kindchen“, meinte Vater Stichling, “denke doch an mein Rheuma. Vor allem die Transzendenzhechte passen wie die Luchse auf!” Als man Vater Stichling später fragte, wußte er nicht mehr genau, wie es passierte. - Er fühlte sich unter die Flossen genommen und schon stürzte er kopfüber in die Fluten des großen Stromes. Der Chronist erfuhr, das der Sprung der Stichlinge unter den anderen Fische eine derartige Begeisterung auslöste, daß alle über das Geländer sprangen. (Anmerkung des Verfassers: Fische lassen sich leichter – im Gegensatz zu Menschen – begeistern.) Wütend versuchten die Oberkarpfen die Massenflucht zu stoppen. Aber alle Beschwörungen, Verdammungen waren vergebens. Das Lebenselement der Fische besaß größere Anziehungskraft als das Rinnsal der Oberkarpfen.

Am Schluß standen die Karpfen allein auf der Brücke, selbst die Hechte waren gesprungen.

Lehre: Wer meint, eine Brücke schlage Verbindungen, der kann sich leicht irren. Sie kann auch zum Springen verleiten. Die Frohbotschaft läßt sich nicht kanalisieren. Der Geist weht, wo Er will!