Aufgelesen
"Körpersprache der Kirche"

„Einer der häufigsten Einwände gegen die seit vielen Jahren vorgebrachten und im „Kirchenvolks-Begehren“ gebündelten und auf den Punkt gebrachten Forderungen lautet sinngemäß: „Verschwenden wir doch unsere Energien in der Kirche nicht mit den ewig gleichen, im Grunde nebensächlichen und belanglosen Strukturfragen wie Zölibat oder Priesterweihe der Frau. Wir brauchen unsere Kräfte viel dringender für die eigentlich wichtigen Probleme in Kirche und Gesellschaft: Glaubens- und Gottesverlust, Zunahme der Ersatzreligionen und Sekten, soziale Probleme, Hunger und Krieg in der Welt.“ Auch führende, als aufgeschlossen und fortschrittlich geltende Theologen haben gegen den Inhalt des Kirchenvolks-Begehrens ähnliche Vorwürfe erhoben. So meinte etwa Paul M. Zulehner, daß es sich bei den genannten Forderungen um spätmoderne, im Grunde längst überholte individualistische Bedürfnisse einer verwöhnten und wehleidigen bürgerlichen Generation im übersättigten Europa handle; gleichsam um das letzte Aufstoßen einer Aufklärungs- und Freiheitsideologie, die in der postmodernen Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts außer ein paar übriggebliebenen „Achtundsechzigern“ niemanden mehr, und schon gar nicht die Jugend, wirklich ansprechen würde.

Abgesehen von meinem entscheidenden Gegenargument, das ich weiter unten noch näher ausführen werde, sei hier bereits folgendes angemerkt: Trotz der allseits herbeigeredeten Postmoderne und der offensichtlichen Krise unserer fortschrittsbesessenen Zivilisation und Industriegesellschaft ist doch auch heute noch allgemein unbestritten, daß die Errungenschaften der Aufklärung und der aus ihr hervorgegangenen geistig-politischen Bewegungen den Menschen in unserer Gesellschaft mehr Freiheit, Mündigkeit, Demokratie, Emanzipation und Rechtssicherheit gebracht haben und daher nie mehr zurückgedreht werden dürfen. Diese Einschätzung übersieht keineswegs die vielen Schattenseiten, die uns diese Entwicklung auch eingebracht hat, sowie die Notwendigkeit substantieller Verbesserungen und vor allem des Wandels vom rein quantitativen zu einem qualitativen Fortschrittsbegriff. Aber nur weil sich die moderne Gesellschaft bereits vom „Kindergarten“ zur „Höheren Schule“ der Autonomie, Demokratie und Emanzipation weiterentwickelt hat und über das Stadium erster, rudimentärer Grundrechte hinausgewachsen ist, nun der Kirche gleichsam diesen „Grundkurs der Freiheits- und Menschenrechte“ ersparen zu wollen und ihr gleich die Abkürzung in die postmoderne, angeblich nicht mehr so freiheitsverliebte Gesellschaft zu empfehlen, erscheint als wenig überzeugend und für die Kirche letztlich gefährlicher Ratschlag.

Aber auch Johann Baptist Metz sieht nicht in den Strukturfragen, sondern im allgemeinen Gottesverlust („Gotteskrise“) unserer Zeit den wahren Grund für die Krise unserer Kirche. Und so manche weisen – nicht ohne Schadenfreude und bisweilen sogar mit süffisantem Unterton – auf die evangelische Kirche hin, der es angeblich noch schlechter gehe als der katholischen, obwohl in ihr die Anliegen des „Kirchenvolks-Begehrens“ weitgehend verwirklicht seien. So verweist man in diesem Zusammenhang auf die synodale Struktur mit Bischofswahl und die Zulassung von Frauen und von Verheirateten zum Pastorenamt. Selbst diese These müßte im einzelnen genauer überprüft werden; zumindest was den Nachwuchs an Pastorinnen und Pastoren betrifft, stimmt sie mit Sicherheit nicht. Erst recht muß aber der zwar unausgesprochene, aber doch unterschwellig behauptete kausale Zusammenhang zwischen der „fortschrittlichen“ Struktur und dem angeblich schlechten Zustand der evangelischen Kirche als unberechtigt zurückgewiesen werden; er entbehrt jeder Grundlage. Im äußersten Fall könnte man die Aussage gelten lassen, daß die evangelische Kirche trotz ihrer größeren Offenheit und Aufgeschlossenheit in ihren eigenen Reihen (provokant ausgedrückt: trotz der größeren Evangeliumsnähe) überraschenderweise nicht besser dasteht, als sie es tut. Und im übrigen – darauf wurde schon mehrfach hingewiesen – darf die „Einschaltziffernmentalität“, also das oberflächliche, kurzsichtige Haschen nach einem größeren quantitativen Zuspruch, überhaupt kein Maßstab für kirchliches Handeln sein. Selbst wenn die längst überfällige Strukturreform der Kirche in Richtung mehr Demokratie, Emanzipation und Solidarität jetzt zügig durchgeführt würde, brächte das kurzfristig kaum entscheidend mehr Besucher und Mitglieder in unsere Kirche. Und auch der gesellschaftliche Applaus würde sich wahrscheinlich in Grenzen halten, holte die Kirche mit etlicher Verspätung doch nur etwas nach, was außerhalb dieser Gemeinschaft schon längst zum geistig-politischen Allgemeingut gehört. Das entscheidende Kriterium für kirchliches Handeln und für jede Kirchenreform kann nur die Botschaft des Evangeliums sein – unabhängig vom Ausmaß des meßbaren Erfolges. Längerfristig allerdings machen sich erhöhte Glaubwürdigkeit und gesteigerte Übereinstimmung zwischen Anspruch und eigener Wirklichkeit allemal bezahlt; denn nur so kann verlorengegangenes Vertrauen langsam, aber sicher zurückgewonnen werden.

Und damit bin ich beim entscheidenden Gegenargument gegen den oben zitierten Einwand, man solle sich nicht länger mit Randfragen aufhalten, angelangt. Dieser Einwand übersieht nämlich den engen innerlichen Zusammenhang zwischen Inhalt und Form, Theorie und Praxis, Botschaft und Verkündigung, Innen- und Außenseite. Inhalt und Wesen einer Botschaft und die nach außenhin sichtbare Form, Sprache und Struktur verhalten sich zueinander wie die Vorder- und Rückseite einer Medaille, wie Inhalt und Form eines Gefäßes, wie Geschenk und Verpackung oder wie das Wesen eines Menschen und sein äußerliches Erscheinungsbild. So wie in der Bibel der Name Jahwe etwas über das Wesen und Sein Gottes aussagt, so drücken auch Struktur und Erscheinungsform einer Institution etwas von deren Wesen aus. Es ist wie mit der Körpersprache eines Menschen: In Gestik, Mimik und Körperhaltung wird oft mehr sichtbar von dem, was der Betreffende mitteilen möchte, als in seinen rein verbalen Äußerungen. Insofern ist die Körpersprache sehr aufschlußreich, bisweilen sogar äußerst verräterisch: Denn sie kann das gesprochene Wort unterstreichen, sie kann es aber auch (was dem Sprecher meist nicht bewußt wird) schonungslos aufdecken, daß das Gesagte eigentlich nicht so gemeint ist. Die Körpersprache reißt also, wenn man so will, der Verbalsprache die Maske vom Gesicht; sie ist ein untrügerischer und weitgehend unbestechlicher Maßstab für die Echtheit und Wahrhaftigkeit einer Aussage und damit auch für die Glaubwürdigkeit ihres Absenders.

Wir alle kennen aus unserer praktischen Erfahrung viele Beispiele für die Bedeutung der Körpersprache und für die entlarvende und hinsichtlich der Glaubwürdigkeit höchst abträgliche Wirkung, wenn verbale Sprache und Körpersprache augenscheinlich voneinander abweichen. Wenn zum Beispiel Eltern, die selber ständig streiten, ihre Kinder zum Frieden erziehen wollen; oder wenn ein Lehrer, der besonders autoritär vorgeht, Mitsprache und Demokratie predigt; oder wenn jemand mit einem finsteren und mürrischen Gesicht von der Freude erzählt; oder wenn ein Orchester mit verstimmten Instrumenten ein noch so schönes Stück spielt, oder jemand, der extensiv das Auto benützt, für den Umweltschutz eintritt: So werden alle diese Menschen wenig überzeugend wirken und der Sache, die sie vertreten wollen, eher schaden als nützen. Der Grund für diese kontraproduktive Wirkung ist die fehlende Glaubwürdigkeit, die nicht durch die gesprochenen Worte, sondern erst durch die gegenteilige Praxis, also durch die begleitende „Körpersprache“, offenbar wird.

Wenn also die Form nicht mit dem Inhalt übereinstimmt, wenn Anspruch und Wirklichkeit, Theorie und Praxis auseinanderklaffen und die Art und Weise, wie man spricht, im Widerspruch steht zu dem, was man sagt, so wirkt dies letztlich negativ und beschert dem Betreffenden ein großes Glaubwürdigkeitsdefizit. Nach dem heutigen Wissensstand gilt es als bewiesene Tatsache: Man redet nicht nur durch das, was man sagt (Sachebene), sondern auch dadurch, wie man etwas sagt, mit welchen Bewegungen und mit welchem Gesichtsausdruck, also mit welcher Körpersprache man seine Worte begleitet (Beziehungs- und Gefühlsebene). Und es ist ebenso unbestritten, daß im Zweifelsfalle die Körpersprache den nachhaltigeren Eindruck hinterläßt.

Alle diese Mechanismen gelten naturgemäß auch für die Kirche als handelndes und sprechendes Subjekt. Auch sie erzählt nicht nur dort von Gott, wo sie dies ausdrücklich und bewußt in ihrer verbalen Verkündigungssprache tut: in ihrer Theologie, ihren Dogmen, ihrer Morallehre und ihrer Predigt. Sie erzählt in entscheidender und nachhaltiger Weise – und zwar permanent, ohne daß ihr das bewußt ist – auch durch ihre Regeln, Strukturen und Verhaltensweisen von Gott. Dieses äußere Erscheinungsbild, diese sichtbare Außenseite der Kirche wird wie die Körpersprache einer Person von den Menschen besonders deutlich wahrgenommen und hinterläßt bei ihnen mit Sicherheit einen stärkeren Eindruck als ihre verbale Verkündigung. Aufschlußreich und verräterisch wird diese „Körpersprache“ der Kirche dann, wenn sie in eklatanten Widerspruch zu ihrer theoretischen Botschaft tritt: wenn die Kirche zwar von der Mündigkeit und Verantwortung ihrer Mitglieder spricht, diese durch ihr praktisches Verhalten aber bevormundet und weitgehend entmündigt; wenn sie zwar von der Würde der Frau spricht, diese aber durch ihre eigenen (männlichen) Strukturen verletzt; wenn sie zwar von der zentralen Bedeutung lebendiger Gemeinden und der Eucharistiefeier spricht, diese aber durch die engen Zulassungsbedingungen zum Priesteramt selber untergräbt; wenn sie zwar von der (von Gott gutgeheißenen) Erschaffung des Menschen als Mann und Frau durch Gott spricht, Körperlichkeit und Sexualität durch ihre praktische Haltung aber ständig schlechtmacht; und wenn sie zwar von der übergroßen Barmherzigkeit Gottes gegenüber Sündern und Ausgestoßenen spricht, diesen aber durch ihr eigenes Verhalten zusätzliche Lasten auferlegt. Dabei hat die „Sprache der Fakten“, die „Körpersprache“ letztlich sicher mehr Gewicht, als die Sprache noch so gut gemeinter, schöner Worte. Die in dieser Diskrepanz zwischen verbaler Sprache und „Körpersprache“ der Kirche gründende Ursache für ihren dramatischen Glaubwürdigkeitsverlust wird von Seiten der Kirchenleitung, aber auch von führenden Theologen bis jetzt zu wenig bedacht.

Im übrigen sind auch noch andere Bereiche, in denen die Kirche sichtbar „in Erscheinung tritt“ (und zwar auch ganz wörtlich gemeint), stärker als bisher in ihrer Bedeutung und Wirkung ernstzunehmen: Vor allem die Liturgie mit ihren Formen, Formeln und Symbolen und ihrer Sprache ist zunächst oft der einzige konkrete Berührungspunkt von Menschen mit der Kirche und durch ihre weitgehende Unverständlichkeit dann oft auch schon die Endstation jeglichen Kircheninteresses. Auch die Tatsache, daß die Kirche in ihren führenden Repräsentanten fast ausschließlich durch ältere, zölibatär lebende Männer in Erscheinung tritt, hinterläßt – zumindest unbewußt – einen nicht zu unterschätzenden bleibenden Eindruck und erzeugt in den Köpfen der Menschen von der Kirche insgesamt und dadurch auch von Gott selber ein bestimmtes Bild. Die Botschaft von einem dynamischen, lebendigen Gott wirkt jedenfalls angesichts der sichtbaren „Bilder“ wenig glaubwürdig.

Es ist also kein Zufall, sondern leider durch zahlreiche negative Erfahrungen und Eindrücke begründet, daß bei vielen Menschen unserer Zeit in bezug auf die Kirche der Eindruck der Unglaubwürdigkeit, der Heuchelei und Doppelmoral entstehen konnte. Es verwundert daher auch nicht, daß auch die tiefste Krise, in die österreichische Kirche seit 1945 geraten ist, von dieser Diskrepanz zwischen Anspruch und eigener Wirklichkeit ihren Ausgang nahm. Denn Josef Hartmann, der die Affäre um Kardinal Groer ins Rollen gebracht hatte, sagte selbst, daß ihn diese heuchlerische Doppelmoral eines hohen Kirchenvertreters zu diesem Schritt in die Öffentlichkeit bewogen hat: Erst als er in einem Fastenhirtenbrief des Kardinals dessen drohende Worte gegenüber Kinderschändern und anderen „Sexualsündern“ gelesen habe, sei es ihm zu viel geworden. Dass eine Institution, die auch in ihren Repräsentanten selber schwach und sündhaft ist, anderen Menschen schwere Lasten auferlegt und sie unter moralischen Druck setzt, ist der eigentliche Grund für das tiefe Unbehagen. So gesehen kann man behaupten, daß hier der Kirche in diesem öffentlich aufsehenerregenden Fall ihre eigene Unglaubwürdigkeit und heuchlerische Doppelmoral auf den Kopf gefallen sind und sie selbst in eine schwere Krise gestürzt haben. Aber man soll sich nicht täuschen lassen: Ein solcher Fall ist nur die Spitze des Eisberges. Genauso schwer wiegt, daß die Kirche tagtäglich zwar durch weniger spektakuläre, aber von den Menschen registrierte Beispiele das Vertrauen der Menschen sukzessive verliert: zum Beispiel wen sie Unternehmen und Betrieben möglichst weitreichende Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte für die Beschäftigten empfiehlt, sich selber aber nicht daran hält; wenn sie in Sonntagsreden immer wieder die Würde der Frau betont, sie durch ihre eigenen Regelungen aber weiterhin diskriminiert; wenn sie immer wieder die hehre Bedeutung und unaufgebbare Notwendigkeit des Zölibats hervorkehrt, zugleich aber ein Gutteil des Klerus in (meist versteckten) Beziehungen lebt. Wahrscheinlich muß es uns als Kirche noch viel deutlicher als bisher bewußt werden: Durch diese strukturelle Unglaubwürdigkeit und Doppelmoral untergräbt die Kirche ihre eigene Autorität und fügt sich selbst damit großen Schaden zu. Und was noch schlimmer ist: Sie kann so auch ihrem Auftrag, die Botschaft des Evangeliums den Menschen nahezubringen, nicht mehr gerecht werden. Um nicht mißverstanden zu werden: Niemand will eine perfekte, fehlerfreie, vollkommene Kirche. Aber wir alle haben eine tiefe Sehnsucht nach einer Kirche, die mehr Verständnis hat für die Menschen in ihren unterschiedlichen Bedrängnissen, weil sie selbst um ihre eigenen Nöte und Schwächen weiß. Eine solche mit den Menschen mitgehende und mitlebende Kirche entspräche nicht nur besser dem mitgehenden Gott der Bibel, sondern würde mit der Zeit auch wieder das Vertrauen der Menschen gewinnen.

Die Meinung, daß es sich bei den bekannten Strukturproblemen der Kirche lediglich um „vorletzte Fragen“ handle und man sich doch endlich den eigentlich wichtigen Themen wie Glaube und Gott zuwenden solle, vertraten auch drei österreichische Bischöfe in der Tageszeitung „Kurier“ vom Ostersonntag 1996. In einem offenen Brief an diese Bischöfe versuchte ich auf ihre Aussagen eine Antwort zu geben (zuvor sei mir aber noch ein kleiner Seitenhieb gestattet: Wenn es sich bei Themen wie Zölibat, Frauenordination und Sexualmoral wirklich um nebensächliche Randfragen handelt, wie immer wieder behauptet wird, könnte man diese doch rasch und ohne großen Aufwand lösen und dann zu den wirklich wichtigen Problemen übergehen):

„Sehr geehrte Bischöfe Schönborn, Weber, Kapellari!

Ihre Aussagen im ‚Kurier’ vom Ostersonntag, den 7. April 19996, die Sie offensichtlich auch an die Plattform ‚Wir sind Kirche’ und an die 500.000 UnterzeichnerInnen des ‚Kirchenvolks-Begehrens’ richten, dürfen nicht unwidersprochen bleiben und veranlassen uns, Ihnen – ebenfalls über die Öffentlichkeit – zu antworten.

Die Kernaussage Ihrer Stellungnahmen lautet: Wir sollten in der Kirche mehr vom Glauben, von Gott, vom Wesentlichen reden und weniger über ‚vorletzte Fragen’ wie Zölibat, Stellung der Frau oder Sexualmoral.

Einverstanden: Reden wir von Gott und von unserem Glauben. Aber das Problem ist ja, daß führende Amtsträger der Kirche – ob sie es wollen oder nicht – immer auch von Gott erzählen, auch wenn sie über scheinbar nebensächliche, ‚vorletzte’ Fragen reden; und auch die kirchlichen Strukturen erzählen – ob es ihnen bewußt ist oder nicht – von Gott. Aber von welchem Gott erzählen führende Amtsträger und kirchliche Strukturen?

* Sie erzählen von einem Gott, der angeblich die Monarchie in der Kirche will und dem die Demokratie grundsätzlich suspekt ist; der seinen Heiligen Geist vornehmlich auf geweihte Häupter ausgießt und die Nichtgeweihten weitgehend leer ausgehen läßt.
* Sie erzählen von einem Gott, der bei seiner Berufung in kirchliche Weiheämter angeblich auf das Geschlecht schaut und Menschen, die zum Dienst bereit, berufen und ausgebildet wären, ausschließt, nur weil sie Frauen sind.
* Sie erzählen von einem Gott, der den Menschen im priesterlichen Dienst angeblich die Verpflichtung zur Ehelosigkeit, ja zur völligen sexuellen Enthaltsamkeit und damit eine schwere Last auferlegt und dem es angeblich lieber sein soll, die große Zahl an heimlichen Beziehungen von Priestern stillschweigend zu dulden, als eine offizielle Eheschließung zu erlauben.
* Sie erzählen von einem Gott, für den das sechste Gebot angeblich an erster Stelle steht, der Kondom und Pille in jedem Fall für Sünde hält und dem Lebensfreude und sexuelle Lust ein Dorn im Auge sind.
* Und sie erzählen von einem Gott, der Menschen in schwierigen Situationen angeblich Paragraphen des kirchlichen Gesetzbuches entgegenhält und ihnen damit zusätzliche Lasten auferlegt.

Ja, liebe Bischöfe, Vertreter und Strukturen dieser Kirche teilen – bewußt oder unbewußt – immer auch etwas von Gott und von unserem Glauben mit, wenn sie über Macht und Autorität in der Kirche, die Rolle der Frau, den Zölibat, die Sexualität oder das Scheitern von Menschen ‚sprechen’. Merken Sie denn nicht, daß Sie und Ihre Amtsbrüder sich genau dadurch mitschuldig machen am Gottesverlust und an der Glaubenskrise unserer Zeit, weil viele Menschen an diesen verzerrten, entstellten Gott, als der er ihnen oft vor Augen geführt wird, nicht mehr glauben können?

Und glauben Sie uns: Auch wir reden von Gott und vom Wesen unseres Glaubens. Die Unterstellung, dies nicht zu tun und bei vordergründigen Nebensächlichkeiten stehenzubleiben, tut uns weh und muß mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen werden.

Aber wir sehen, wenn wir auf die Bibel und vor allem auf Jesus Christus schauen, einen anderen Gott und versuchen von ihm zu erzählen:

· Wir sehen einen Gott, der die Menschen, auch die geringsten und unscheinbarsten, aufrichtet und ermutigt. ‚Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern Freunde.’ (Joh 15,15) Der Amts- und Machtausübung immer unter dem Aspekt des Dienens sieht ‚Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein.’ (Mt 20,26). Wie sollte dieser Gott Anstoß nehmen an mehr Mitsprache und Mitverantwortung aller Gläubigen?
· Wir sehen einen Gott, der sich beherzt für die gleiche Würde von Mann und Frau, einsetzt: ‚Es gibt nicht mehr ... Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer’ in Christus Jesus.’ (Gal 3,28) – Wie sollte dieser Gott Anstoß nehmen an Menschen weiblichen Geschlechtes im Diakonat oder im Priesteramt?
· Wir sehen einen Gott, der die Menschen zur Gemeinschaft sammelt und Gemeinden aufbaut und sich über jeden Menschen – ob Mann oder Frau, verheiratet oder unverheiratet – freut, der zum priesterlichen Dienst in der Gemeinde bereit und befähigt. – Wie sollte dieser Gott Anstoß nehmen an verheirateten Männern und Frauen als Priester?
· Wir sehen einen Gott, der den Menschen mit seiner Körperlichkeit und Sexualität geschaffen und gutgeheißen hat und der die Verbindung zwischen Mann und Frau segnet. – Wie sollte dieser Gott Anstoß nehmen an der verantwortlich gelebten Lebensfreude und Liebeslust zweier Menschen, auch jenseits von Fruchtbarkeit und Zeugung?
· Und wir sehen schließlich einen Gott, dem Menschen in schwierigen Situationen, an den Rand Gedrängte und Schuldiggewordene ganz besonders am Herzen liegen. – Wie sollte dieser Gott daran Anstoß nehmen, wenn auch seine Kirche solchen Menschen verständnisvoll und einfühlsam begegnet?

Sie sehen also, sehr geehrte Bischöfe, auch wir reden von Gott und dem Wesen unseres Glaubens, aber wir möchten uns bemühen, in der Art von Gott zu erzählen, wie es die Bibel und Jesus Christus tun: von einem Gott, der ein Freund der Menschen ist, der sie liebevoll begleitet und will, daß ‚sie das Leben haben und es in Fülle haben’ (Joh 10,10)

Denken wir doch gemeinsam darüber nach, wie wir diesen Gott durch unsere Rede, durch unser Tun, vor allem auch durch die beständig ‚sprechenden’ Strukturen der Kirche besser zur Sprache bringen können, damit auch die Menschen unserer Zeit wieder neuen Mut, neue Hoffnung und neuen Glauben schöpfen können.“

Die Kirche kann also ihre Glaubwürdigkeit und das Vertrauen der Menschen nur zurückgewinnen, wenn es ihr besser als bisher gelingt, für die Menschen ein Raum zum Aufatmen und ein Humus der Lebensfreude, der Ermutigung, der Menschlichkeit und des Trostes zu sein. Das kann sie aber nur, wenn sie sich bemüht, bis in ihre „Fingerspitzen“ und in die letzten Winkel ihrer Strukturen hinein den Gott der befreienden und ermutigenden Liebe spürbar werden zu lassen. Denn wo, wenn nicht in der Kirche, sollen Menschen den erfüllenden Sinn des Teilens und der Solidarität erfahren? Wo denn, wenn nicht in der Kirche, die Erfahrung machen, daß Mann und Frau von Gott gleichwertig geschaffen sind und in der treuen Liebe zueinander ihre Erfüllung finden? Wo denn, wenn nicht in der Kirche, sollen Menschen leibhaftig erfahren, daß Gott den Menschen ein Leben in Fülle schenken möchte, sie zur geschwisterlichen Gemeinschaft sammelt und sie zur Mündigkeit und Verantwortung befähigt und ermutigt? Und wo denn, wenn nicht in der Kirche, sollten Menschen erkennen, daß sich Gott ganz besonders um Benachteiligte kümmert und uns ermutigt, ihm darin nachzufolgen?

Die derzeitige kirchliche Praxis und Erfahrungswirklichkeit spricht jedoch vielfach eine andere Sprache und vermittelt so ein sehr zwiespältiges, brüchiges Bild: Denn mit Bevormundung und Entmündigung, wie sie in unserer Kirche immer noch weitgehend praktiziert werden, läßt sich der aufrichtende, ermutigende Gott nicht verkünden. Mit dem Ausschluß der Frauen vom Weiheamt läßt sich der gerechte Gott nicht verkünden. Mit dem Pflichtzölibat läßt sich der sammelnde, gemeinschaftsstiftende Gott nicht verkünden. Mit lustfeindlicher Sexualmoral läßt sich der liebes- und lebensfreundliche Gott nicht verkünden. Mit abweisenden Händen läßt sich der einladende Gott nicht verkünden. Mit Paragraphen und Gesetzen läßt sich der liebende, barmherzige Gott nicht verkünden. Und mit Geboten und Verboten allein läßt sich der befreiende, erlösende Gott nicht verkünden.

Ein weiterer Einwand gegen das „Kirchenvolks-Begehren“ besteht darin, daß ihm ein gravierender Mangel an Spiritualität vorgeworfen wird. Dabei wird der Eindruck vermittelt, daß in diesem Zusammenhang Spiritualität gerne als rein geistige, individuelle und innerliche Kraft verstanden wird, Fragen der Form und Struktur aber als ungeistige, politische und äußerliche Themen abgetan und diffamiert werden. Mithilfe der „Waffe Spiritualität“ werden Strukturfragen zu reinen Äußerlichkeiten abgewertet, und (kirchen)politisches Handeln bekommt das Etikett des beinahe Unanständigen verpaßt. Zugleich wird die völlig unpolitisch verstandene Mystik in den Bereich der subjektiven Innerlichkeit verbannt und gegen die als gänzlich ungeistig verdächtigte Politik ausgespielt. Damit wird aber der Begriff der Spiritualität auf bedenkliche Weise mißbraucht. Denn wenn Spiritualität bedeutet, sich auf den Geist Gottes einzulassen und von ihm sein Leben, Denken und Handeln leiten zu lassen, dann hat Spiritualität ganz wesentlich auch eine politisch-soziale, äußerliche, gestalthafte Dimension. Eine rein innere Kraft, die nicht auch nach außen sichtbar und wirksam wird, taugt nicht viel (vgl. Mt. 3,8-10; 7,21). In diesem Sinne sind Mystik und Politik, Kontemplation und Aktion nur zwei Seiten ein und derselben Sache, Innen- und Außenseite der gleichen göttlichen Wirkkraft. Wenn eine Seite vernachlässigt wird oder gar fehlt, geht Wesentliches verloren: Ohne Mystik droht der oberflächliche Aktionismus und ohne Politik eine rein private Frömmelei.

Die Kirche erlag in ihrer Geschichte immer eher der zweiten Gefahr, also jener „Privatisierung“ des Glaubens. Es ist eine wesentliche Intention des „Kirchenvolks-Begehrens“, Formen, Strukturen und Erscheinungsbild der Kirche von der Abwertung zu reinen Äußerlichkeiten zu befreien und in ihnen einen vielsagenden Ausdruck des kirchlichen Wesens zu erkennen. Nur wenn diese Außenseite ebenso wie das „innere Herz“ vom Geist Gottes durchtränkt ist, wirkt die Gemeinschaft der Kirche insgesamt glaubwürdiger und „geisterfüllt“. Spiritualität bedeutet dann also: Der Geist, der mich persönlich in meinem Innersten leitet, kommt erst an sein Ziel, wenn er auch in all meinen Lebensäußerungen, ja bis in die letzte Faser meines Körpers und meines Handelns hinein, sichtbar wird. Und der Geist, der eine Institution wie die Kirche von innen her leitet, kommt erst dann zu seiner vollen Entfaltung, wenn er auch in Sprache, Riten, Verhaltensweisen, Regeln und Strukturen dieser Gemeinschaft spürbar und konkret erfahrbar wird. Es geht also im „Kirchenvolks-Begehren“ auch um die Rehabilitation des Politischen (Politik ist alles, was zur Gestaltung der Gemeinschaft beiträgt. Auch eine noch so privat getroffene Entscheidung, z.B. zu einer dauerhaften Partnerschaft, hat immer auch öffentliche, gesellschaftliche Auswirkungen.) im Bereich der Kirche und um seine Befreiung vom Image des Suspekten, von dem sich Christinnen und Christen tunlichst fernzuhalten hätten.

Johann Baptist Metz hat auf diesen Zusammenhang zwischen Mystik und Politik und seine Bedeutung für die Kirche eindrucksvoll hingewiesen. Nur eine Kirche, die mystagogisch, geschwisterlich und politisch ist, werde dem Auftrag des Evangeliums gerecht und sei den Herausforderungen der Zeit gewachsen. Aus der tiefen mystischen Verwurzelung in Gott folge zwingend der Aufbau einer geschwisterlichen Gemeinschaft (Kirche), die den Geist Gottes exemplarisch, als eine Art Vorbild- und Alternativgesellschaft, zu leben versucht. Kirche darf damit aber nicht sich selber genügen, sondern müsse mit ihrem geisterfüllten Leben in die Gesamtgesellschaft ausstrahlen und dort den Geist Gottes auch politisch-sozial zur Wirkung bringen.

Zusammenfassend sei festgehalten: So richtig die Feststellung ist, daß es sich bei den im „Kirchenvolks-Begehren“ genannten Anliegen „nur“ um Strukturfragen und nicht um Glaubensfragen im eigentlichen Sinne handle, so falsch wäre nach den aufgezeigten Zusammenhängen andererseits die Behauptung, diese Strukturfragen hätten mit Wesen und Inhalt christlichen Glaubens nichts zu tun. Ziel dieses Kapitels war es, die innere Beziehung zwischen Botschaft und Struktur der Kirche bewußt zu machen und so ein weiteres gewichtiges Argument für ihre größtmögliche Übereinstimmung im Sinne der Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit in die Waagschale zu werden. Um es etwas überpitzt auszudrücken: Auch Formen und Strukturen sind im weitesten Sinne eine „Glaubensfrage“.

Dr. Thomas Plankensteiner