Wolfgang Thierse: Religion ist keine PrivatsachePredigt-Gespräch und Vortrag mit dem Bundestagspräsidenten am 25. März 2000 in der katholischen St. Ludwig-Gemeinde in Berlin -Wilmersdorf |
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Auf einer Veranstaltung der zur KirchenVolksBewegung gehörenden "Kritischen Katholiken Berlin" hat sich Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) für die Beibehaltung der Rolle der christlichen Kirchen als Wertevermittler ausgesprochen. In seinem Vortrag "Braucht die Politik die christlichen Kirchen?" sagte er, christliche Werte seien auch in einer säkularisierten Welt nicht überholt. Die Kirche habe zwar keinen politischen Auftrag im engeren Sinne, so Thierse, der auch Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken ist, sie wirke aber für das Gemeinwohl in die gesamte Gesellschaft hinein, da christlicher Glauben immer auch Handeln bedeute: "Religion ist keine Privatsache und kann es nicht sein." Politik sei zwar zu religiöser Neutralität verpflichtet, sie könne aber nicht allein für das ethische Fundament der Gesellschaft sorgen, sagte Thierse und äußerte seine Besorgnis darüber, dass die Politik der ökonomischen Entwicklung hinterher hinke. Es gäbe eine "unglaubliche Diskrepanz" zwischen der Geschwindigkeit politischer und wirtschaftlicher Entscheidungsfindung. Die Globalisierung führe in der Bevölkerung zu einem "diffusen Gefühl des Ungenügens demokratischer Politik". Sozialstaat muss Kern organisierter Solidarität behaltenDie am Gemeinwohl interessierten Kräfte müssten gestärkt werden, sagte Thierse und erinnerte daran, dass auch der lange Zeit für die bundesdeutsche Gesellschaft prägenden Sozialen Marktwirtschaft ein Grundverständnis von Solidarität zu Grunde gelegen hätte. Wiewohl der Sozialstaat - Thierse bezeichnet diesen als "große europäische Kulturleistung" - der Reform bedürfe, müsse sein Kern von organisierter Solidarität bleiben, Gerechtigkeit und Solidarität seien keine Resultate des Marktes. Thierse sprach sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich für den arbeitsfreien Sonntag wie auch für die Einführung eines Wahlpflichtfaches Religion in Berliner Schulen aus, wobei der Religionsfreiheit wegen auch die Wahl von Philosophie und Ethik möglich sein müsse. Er erwähnte auch die Spendenaffäre der CDU und verwahrte sich gegen die Behauptung, dass es eine Krise der Demokratie gäbe. Schuldbekenntnis des Papstes ist außerordentlicher VorgangIm Predigt-Gespräch während des Vorabendgottesdienst der St. Ludwig-Gemeinde hat Thierse das Schuldbekenntnis von Papst Johannes Paul II. für die Sünden der Christen in der Kirchengeschichte als "ganz außerordentlichen Vorgang" gewürdigt. Die Vorwürfe, das Bekenntnis sei nicht weit genug gegangen und habe die Kirche als Institution nicht eingeschlossen, wies er zurück. Es sei "nicht selbstverständlich, dass das Oberhaupt einer globalen Institution" auf diese Weise die Sünden der Vergangenheit benenne, betonte Thierse. Wenn der Papst von "den Christen" gesprochen habe, seien auch Bischöfe und Kardinäle eingeschlossen gewesen. Bergpredigt ist wirklich politischer TextThierse bezeichnete die Bibel als faszinierendes Buch, das in vielen Werken der Weltliteratur Spuren hinterlassen habe. Besonders wichtig sei für ihn die Stelle der Bergpredigt, in der Jesus unter Hinweis auf die "Vögel des Himmels" und die "Lilien des Feldes" zur Gelassenheit aufrufe. Sie enthalte eine "Absage an jede Form von politischem Fanatismus und Selbstüberschätzung" und sei insofern ein "wirklich politischer Text". Eine der zentralen Botschaften der Bibel sei für ihn, dass der Glaube an Christus eine "Voraussetzungslosigkeit für menschliche Begegnung" schaffe und damit nationale und andere Grenzen sowie Ängste und Vorurteile überwinde, sagte Thierese weiter. Predigt-Gespräch mit Thierse ist Schritt in Richtung LaienpredigtWeil Laien in katholischen Messfeiern normalerweise nicht predigen dürfen, war auf Drängen konservativer Kräfte aus der angekündigten "Ansprache im Sinne einer Predigt" ein "Dialog mit einem Geistlichen" geworden. Die "Kritischen Katholiken" als Mitinitiatoren werteten die Teilnahme Thierses "als einen Schritt in Richtung Laienpredigt". Die Zuhörer würdigten das Engagement Thierses mit Beifall. Die "Kritischen Katholiken Berlin"Die "Kritischen Katholiken Berlin" sind im Diözesanrat der Katholiken des Erzbistums Berlin vertreten und repräsentieren in Berlin die KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche, die im Jahre 1995 in Zusammenarbeit mit Vertretern der "Initiative Kirche von unten" (IKvu) das KirchenVolksBegehren organisiert hat. (aus: Der Tagesspiegel, KNA-Berlin, Berliner Zeitung) Kritische Katholiken Berlin / Wir sind Kirche in der Erzdiözese Berlin Kontakt: |