Axel Harald Stark

Meine Gedanken zu Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.

Meine Gedanken zu Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. (1927-2022), den ich persönlich nie kennengelernt habe:

  • er war ein gebildeter Mann. Zuerst setzte er seine Bildung (Theologie, Philosophie, Allgemeinbildung) für die Reform der Kath. Kirche ein (=Berater von Kardinal Frings auf dem Zweiten Vat. Konzil), dann wollte er den "Glauben der einfachen Leute, vermutlich seinen Kinderglauben" retten und er hat seine Intelligenz zur Verteidigung der antimodernistischen Theologie (=er musste bis 1967 mehrfach den Antimodernisteneid schwören, vermutlich tat er das mit voller Überzeugung) und der "alten Messe" und der alten Strukturen /=Frauenbild, Sexualmoral, Pflichtzölibat, Priesterbild, Hierarchie/absiolute von Gott verliehene Amtsvollmacht usw.) eingesetzt. Dieser Einsatz wurde von ihm mit seiner innerkirchlichen Macht (Erzbischof, Kurienkardinal, Papst) verbunden und es wurde kein echter Dialog zugelassen. Jede Form der Vertiefung und Weiterentwicklung zu einer "modernen Theologie" war ihm suspekt und wurde behindert. Die Theologen hatten die Wahl entweder sich der Ratzinger-Linie anzupassen (wie der Lehmann-Schüler Gerhard Müller) oder auf eine kirchliche Karriere oder einen theologischen Lehrstuhl (wie Hans Küng und viele andere) zu verzichten.
  • er hatte einen "guten Willen". Leider hat er gemeint, dass er "von Amts wegen" die Wahrheit, vermittelt durch den Hl. Geist, besitzt und diese Wahrheit treu verteidigen und den "einfachen Gläubigen" verkünden muss. Das musste schief gehen. Er konnte andere hart kritisieren und sanktionieren, selber soll er bei Kritik eine "überempfindliche Mimose" gewesen sein. Er sah nicht, dass er ein auf dialogische Kommunikation auf Augenhöhe angewiesener Theologe auf der Wahrheitssuche war.
  • Sein Ziel der "Entweltlichung" ist zumindest sehr missverständlich: es klingt nach Weltflucht, Flucht aus der Verantwortung für die Gestaltung unserer Welt, es klingt nach Flucht in eine religiöse Sonderwelt. Der Begriff Entweltlichung setzt eine aus der Spätantike (Augustinus) stammende dualistische Sicht der Wirklichkeit voraus: die böse sündige Welt hier und jetzt einerseits und andererseits das künftige, erst noch kommende Reich Gottes, das neue Jerusalem, das durch Wahrheit, Schönheit und durch das Gute (=ein Erbe Platons) gekennzeichnet ist. Christen leben in einer bösen Welt, sollen sich aber nicht an diese böse Welt anpassen. Das Problem bei dieser Sichtweise ist, dass wir sie so heute im 21. Jahrhundert im Alltag nicht teilen: wir haben "nur eine Welt", für deren Gestaltung wir Verantwortung tragen. Der Einsatz für Frieden, Umweltschutz, Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit usw. hier und heute ist gefragt, notwendig und sinnvoll. Ein "Vorteil" bei dieser Entweltlichungs-Strategie ist, das sie weniger anstrengend ist, gesellschaftskritischer und sozialethischer Einsatz ist nicht erforderlich, man hat weniger politische Konflikte. Hätte Jesus so gedacht und gehandelt, würde er wohl "heute noch leben" und hätte sich seinen Zeitgenossen einfach angepasst. Kein Wunder auch, dass Ratzinger die Theologie der Befreiung und die Neue Politische Theologie von Johann B. Metz (1928-2019) bekämpft hat, denn diese wollten sich unserer Weltverantwortung stellen und sich für Frieden und Gerechtigkeit (=iustitia et pax) einsetzen. Die "entweltlichte Institution Kirche" kann dann auch besser mit Militärdiktatoren (Lateinamerika, Afrika, früher Franco-Spanien, Mussolini usw.) zusammenarbeiten. Genau das aber macht ihre Doppelmoral aus und sie verliert Ansehen und Glaubwürdigkeit.
  • Ratzinger war für ein gutes, effizientes Verwaltungsmanagement zu wenig geeignet und wählte aufgrund mangelhafter, einseitiger Menschenkenntnis die falschen Mitarbeiter aus (wie seinen Staatssekretär Tarcisio Bertone oder Erzbischof Gänswein), die seine Fehler in der Verwaltungspraxis noch vergrößerten.
  • seine einseitige Sicht der Kirche (Sakralisierung, ecclesia sancta= die hl. Kirche) und des kirchlichen Priesteramtes verführte ihn dazu, statt des notwendigen Opferschutzes beim Missbrauch nur den Schutz des kirchlichen Ansehens und das der Priester im Auge zu haben. Damit hat er aber das Gegenteil erreicht: das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Kirche und der Priester tendiert nun gegen Null.
  • Wenn die Gerüchte stimmen, dass er eine homosexuelle oder asexuelle Orientierung haben soll, erklärt das auch, warum er den Pflichtzölibat so absolut verteidigt, jede Änderung der Sexualmoral und die Frauenweihe ablehnt, früher auch weibliche Ministranten. Das Problem sind nicht homosexuelle Priester und Bischöfe an sich, sondern nur solche homosexuellen Geistlichen, die (zur Tarnung/aus schlechtem Gewissen/aus der Unfähigkeit heraus sich so anzunehmen wie man ist und von Gott als sein Ebenbild geschaffen wurde) homophob sich geben und auch Frauen diskriminieren (=klerikale Misogynie). Dass sie schon unbewusst andere Homosexuelle in ihren Kreis aufnehmen und ein Netzwerk bilden, ist verständlich, aber mit Gefahren verbunden. Es kostet auch viel Kraft, um gegen die "eigene sündhafte homosexuelle Natur" ständig anzukämpfen. Diese Kraft fehlt dann bei wichtigen anderen Aufgaben.
  • Dass er nicht Bischof oder Papst werden wollte, sondern nur ein "demütiger Arbeiter im Weinberg des Herrn" sein wollte war wohl nur die eine Seite seiner Person, die er immer nach außen vertritt, die andere Seite war der Wunsch nach einer  kirchliche Karriere mit dem damit verbundenen Ansehen und den Prunk. Als er bei einer Firmung den Kardinal Faulhaber in "voller Kriegsbemalung" sah, sagte er als kleiner Junge, er wisse jetzt, was er werden will: Kardinal. Er wurde es auch 1977. Ratzinger hätte besser daran getan, nicht Bischof, Glaubenspräfekt und Papst zu werden, sondern Priester und Theologieprofessor zu bleiben. Er hätte immer Nein sagen können zu den Amtsangeboten. 2005 haben ihn die "hardliner" in der Kurie wie Staatssekretär Sodano vermutlich auch gewählt, weil sie wußten, er würde ihnen "kaum ins Handwerk (Korruption, Macht- und Geldgier usw.) pfuschen". Ihm fehlte da die Übersicht/Einsicht in den "Intrigantenstadl Kurie", die Kraft und der Mut zur Kurienreform, die zumindest seit Pfingsten 2022 auf dem Papier steht. Er schrieb lieber dann drei Jesusbücher (geeignet auch für die Bewahrung des Kinderglaubens).
  • Seine Anhänger (u.a. der alte und neue Schülerkreis) versuchen nun nach seinem Tod sein "Erbe" zu bewahren und zu schützen: seine theologische Schule soll durch die Ernennung zum "Kirchenlehrer" und seine kirchenpolitische Richtung soll durch seine baldmöglichste Heiligsprechung (santo subito wie bei Papst Johannes Paul II.) vor einer kritischen Auseinandersetzung bewahrt werden. Sie haben hoffentlich keinen Erfolg, sonst würde der Schaden für die Kirche noch größer werden.
  • Er soll sich sowohl um den Glauben wie um die Vernunft bemüht haben. Ja, aber er blieb im mittelalterlichen Modell hängen (=der Glaube steht letztlich über der menschlichen Vernunft und die Vernunft kann dem Glauben nicht widersprechen). Mit der Moderne (Aufklärung, Menschenrechte, Freiheit/Verantwortung usw.) hat er sich nicht wirklich auseinandergesetzt, er hatte "Angst" vor ihr und flüchtete sich lieber in das veraltete Modell über den Zusammenhang von Glaube und Vernunft. Ratzingers Gegenspieler Kardinal Martini SJ hat kurz vor seinem Tod zurecht gesagt, dass die kath. Kirche über 200 Jahre der Zeit hinterherhinke. Eine echte, kritische Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution (Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit, Menschenrechte, Demokratie usw.) und der (Post-) Moderne hat Ratzinger vermieden und gescheut, denn es hätte sich einiges in Kirche und Theologie ändern müssen: Menschenrechte, Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit in und durch die Kirche sowie Abbau von magischen Frömmigkeitsvorstellungen. Der Kinderglauben müsste sich massiv ändern. Man sollte zwar die Grenzen der Aufklärung, ihre Dialektik, sehen, aber man darf nicht hinter die Aufklärung zurückfallen, das geht nur schief und die Kirche/die Theologie verliert dabei den Kontakt zu den Menschen und lässt sie im Stich. Denn die Frage nach Sinn und Hoffnung, nach einem gelungenen Leben, nach einer friedlichen, ökologisch verantworteten Welt: diese Frage stellt sich auch heute und in Zukunft. Die Kirche könnte ein Ort, eine Oase sein, die sich darüber ernsthafte Gedanken macht und Lösungen sucht, aber keine veralteten, nur einer kleinen Klerikerkaste dienlichen Gedanken. Sie hat Verantwortung für eine gute, friedvolle, gerechte Weltgestaltung und für die Menschen heute auf der ganzen Welt. Papst Franziskus spricht zurecht von einer "Menschheitsfamilie". Da versagt sie bisher zu sehr.
  • m Streit mit dem jetzigen Kardinal Kasper hat Ratzinger auf den "Vorrang der Weltkirche vor den verschiedenen Ortskirchen" bestanden. Kasper wollte das Gewicht der Ortskirchen, hauptsächlich der Diözesanbischöfe, stärken. Ratzinger setzte sich mit dem Priorität des "Konstruktes Weltkirche" (=konkret die jeweilige Mehrheitsfraktion der Kurie) durch. Die Ortskirchen sind geschwächt, die Bischöfe hängen viel zu sehr von der Kurie ab (Ernennung, Diensteide, Kontrolle, Absetzungsmöglichkeit usw.). Auf einem Konzil hätten die Bischöfe mehr Macht, aber die Kurie verhindert möglichst jedes Konzil zum eigenen Schutz. Und neben den Bischöfen (ca. 5000 weltweit) gibt es noch 1,3 Milliarden Katholiken (Männer, Frauen, Diverse, Ordensleute, Diakone, Priester usw.), die bisher keine Stimme haben, aber zu Gehorsam und Spendenfreudigkeit verpflichtet wurden. Dieses Modell ist zum Scheitern verurteilt, bei regionalen und zeitlichen Unterschieden. 
  • Aufgrund seines Wahrheitsbegriffs (=Besitzer und Verteidiger der Wahrheit qua Amt und Beistand des Hl. Geistes) hat er Defizite in der Ökumene und im interreligiösen Dialog produziert. Dialog auf Augenhöhe mit Vertretern anderer christlicher Konfessionen oder anderer Religionen war nicht möglich und das hatte negative Folgen (z.B. Dominus Jesus im Jahr 2000, Karfreitagsbitte und Aufhebung der Exkommunikation des antisemitischen Bischof Williamson von den Piusbrüdern, Rede an der Regensburger Universität usw.).
  • Zusammen mit Papst Johannes Paul II. zwang er die deutschen Bischöfe aus der Schwangerenberatung auszusteigen. Das schmälerte einerseits die Autorität der deutschen Bischöfe und zweitens haben Johannes Paul und Ratzinger, zwar entgegen ihrer Intention, die Zahl der Abtreibungen dadurch erhöht statt abgebaut. Es fehlte mit dieser platonisch gefärbten Moraltheologie die Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge und die Konsequenzen.
  • Man kann sich wundern, dass die Kirche seit 2000 Jahren überlebt habt, mit vielen Krisen und Konflikten. Aber sie scheint trotz alledem nicht "totzukriegen" zu sein. Das macht Hoffnung. Man sollte diese Hoffnung aber nicht als Ausrede für Passivität gebrauchen. Ich glaube, wir haben die Wahl, uns entweder aktiv durch Einsicht und Verantwortung als Kirche und als Christ zu verändern oder wir müssen uns aufgrund äußeren Drucks und herbeigeführter Katastrophen ändern. Letzteres ist mit mehr Kosten und Leid verbunden. Ratzinger hat uns gezeigt, dass man notwendige, sinnvolle Änderungen mit Machteinsatz hinauszögern kann, aber sie werden auf Dauer nicht zu verhindern sein.

Meine Gedanken sind "nicht unfehlbar", deshalb bitte ich um Rückmeldungen in Form von Ergänzungen, Erweiterungen, Korrekturen, Hinweisen auf Fehler/Mängel/Lücken, Lob und Tadel!

 

Axel Harald Stark
Diplomtheologe, Akademischer Oberrat a.D.
D - 94034 Passau
axelharaldstark@web.de

Zuletzt geändert am 16­.01.2023