13.12.2010 - Frankfurter Allgemeine Zeitung Seite 10

Das Ausmaß sexueller Übergriffe des Klerus in Deutschland wird sich nicht aufklären lassen

Von Brüdern und Komplizen

Von Daniel Deckers

Annähernd ein Jahr ist vergangen, seit mit dem Bekanntwerden sexueller Übergriffe einiger Jesuiten auf Schüler des Berliner Canisius-Kollegs die katholische Kirche auch in Deutschland von einer der dunkelsten Seiten ihrer Geschichte eingeholt wurde. Was lange Zeit als spezifisches Problem der katholischen Kirche in Kanada und in den Vereinigten Staaten wahrgenommen und nicht einmal unter dem Eindruck der schockierenden Berichte über perverse Umtriebe von Geistlichen in Irland für die deutschen Bischöfe zum Thema geworden war, das wurde nun fast über Nacht zur Gewissheit: Auch in Deutschland konnten Päderasten in Priesterkleidung zum Teil jahrelang unbehelligt ihren Neigungen frönen.

Sicher, immer wieder waren in den zurückliegenden Jahrzehnten Geistliche wegen Pädophilie oder Übergriffen auf Jugendliche oder Schutzbefohlene auffällig worden. Manchen wurde unter großer öffentlicher Anteilnahme der Prozess gemacht. Andere waren über Nacht verschwunden. Doch wie es wirklich um das Hellfeld und mutmaßlich um das Dunkelfeld stand, das wollten die deutschen Bischöfe selbst dann noch nicht wissen, als sie im Herbst 2002 als erste Institution in Deutschland verbindliche Leitlinien zum Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs in Kraft setzten.

Weder trug man zusammen oder ließ zusammentragen, was in den vergangenen Jahrzehnten über sexuelle Vergehen von Geistlichen an Kindern und Jugendlichen bekanntgeworden war, noch glaubte man sich der Mühe unterziehen zu müssen, in Personalabteilungen und Archiven nachzuforschen, was womöglich nie ans Tageslicht gekommen war. Warum an längst vernarbte Wunden rühren, wenn es anscheinend nicht einmal Opfer gab, die Gehör verlangten? In der Tat: Wer die erste Missbrauchsdebatte in Deutschland im Sommer und Herbst 2002 verfolgte, der konnte am Ende des Jahres zu dem Schluss kommen, dass alles gesagt worden sei, was je zu sagen war.

Acht Jahre später wissen auch die Bischöfe, dass sie 2002 das Ausmaß sexueller Übergriffe in den zurückliegenden Jahrzehnten unterschätzt haben. Viele Opfer fanden unter dem Eindruck der Enthüllungen über das Canisius-Kolleg ihre Sprache wieder, manche nach Jahren, andere nach Jahrzehnten. Doch wo waren oder sind die Täter? Sind die Verhältnisse in Deutschland womöglich mit jenen in den Vereinigten Staaten vergleichbar, wo sich nach einer Untersuchung des ebenso unabhängigen wie renommierten John Jay College of Criminal Justice zwischen vier und sechs Prozent der Priester als Päderasten erwiesen hatten? Oder konnte und kann man in Deutschland dank strengerer Auswahlkriterien und besserer Ausbildung von einer geringeren Quote ausgehen?

Eine umfassende Antwort auf diese Fragen wollten und wollen die Bischöfe unter Führung des Freiburger Erzbischofs Zollitsch bis heute nicht haben. Eher ließen sie wilde Spekulationen über das Ausmaß der sexuellen Perversionen im Klerus ins Kraut schießen als dass sie ihr eigenes Tun und Lassen umgehend von einer unabhängigen Instanz überprüfen ließen. Und das wohl nicht ohne Grund. Jede Untersuchung nach Art des Berichts des John Jay College aus dem Jahr 2004 über "Art und Ausmaß des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen durch Priester und Diakone in den Vereinigten Staaten" hätte die Amtsführung von Kardinälen und Bischöfen und die Arbeit von Generalvikaren, Personalchefs, Ausbildungsverantwortlichen und Archivaren zum Gegenstand gehabt - und damit ein Arkanum der Kirche nachträglich einer Kontrolle unterworfen. War Zollitsch nicht annähernd zwanzig Jahre lang Personalchef einer der größten deutschen Diözesen gewesen? Wie viele Bischöfe waren einst als Generalvikare für die Bistumsverwaltung verantwortlich gewesen, wie viele hatten nicht in gutem oder weniger gutem Glauben schon einmal einen Priester aus einer anderen Diözese aufgenomen?

Ein nicht ganz unmaßgeblicher Bischof wollte sich trotz allem nicht mit dem Klima des Generalverdachts gegen seinen Klerus und der Vogel-Strauß-Haltung der Bischofskonferenz abfinden. Im April beauftragte der Münchner Erzbischof Reinhard Marx eine renommierte Anwaltskanzlei mit der Durchsicht aller Personalakten seit 1945 - wohl wissend, dass er damit mit dem Feuer spielte. Nicht nur die Amtsführung von Marxens unmittelbarem Vorgänger Friedrich Kardinal Wetter sah sich plötzlich einer unabhängigen Überprüfung ausgesetzt. Was würden die Akten über Papst Benedikt XVI. preisgeben, der als Joseph Kardinal Ratzinger von 1977 bis 1982 an der Spitze des Erzbistums München und Freising gestanden hatte? Und was über die Persönlichkeit von Julius Kardinal Döpfner, des wie eine Ikone verehrten Konzilskardinals, Vorsitzenden der Bischofskonferenz und Vorgängers des heutigen Papstes in München?

Das Ergebnis der sieben Monate währenden Recherchen der Münchner Anwälte in 13.200 Akten ist schockierend - doch nicht so, wie es von manchen erwartet worden war. Denn anstatt dass Marx nun wüsste, was sich in seinem Erzbistum zwischen 1945 und 2009 an sexuellen Übergriffen von kirchlichen Mitarbeitern zugetragen hat, sieht der Erzbischof nicht viel mehr, als dass er niemals Gewissheit über das wahre Ausmaß der Verbrechen des Klerus einschließlich der Religionslehrer im Kirchendienst und der hauptamtlichen Laien in der Seelsorge haben wird. Denn nach allem, was in und zwischen den Zeilen der in der vergangenen Woche veröffentlichten Zusammenfassung des als solcher geheim gehaltenen Berichts zu lesen ist, wurden viele Personalakten, die über Täter und womöglich auch Opfer hätten Aufschluss geben können, entweder lückenhaft oder gar nicht mehr aufgefunden. Schiere Fahrlässigkeit? Perfide Methode? Wie so vieles andere ließ sich auch das in vielen Fällen nicht mehr rekonstruieren. Mündliche Absprachen anstatt Aktenvermerken, verschwommene Andeutungen statt nüchterner Feststellungen - und das alles auf dem Generalnenner eines klerikalen Selbstverständnisses, das "in einem im Ergebnis rücksichtslosen Schutz des eigenen Standes eine Rechtfertigung für eine nicht tolerable Vertuschung sucht" - so die wohl nicht ohne Grund im Präsens gehaltene Quintessenz des Berichts.

Dieser Befund ist von einer Tragweite, die nicht an den Grenzen des Erzbistums München und Freising haltmacht. Verharmlosung und Vertuschung gab es in der Kirche nicht nur nach außen, gegenüber Gläubigen und staatlichen Behörden. Verharmlost und vertuscht wurde unter dem Deckmantel von Mitbrüderlichkeit und - so muss man annehmen - manchmal zudem Komplizenschaft auch nach innen. Und das so sehr, dass es wohl nie mehr möglich sein wird, das Ausmaß der Verbrechen und ihre sie begünstigenden Umstände zu rekonstruieren. Dass damit auch das Profil des heutigen Papstes und damaligen Erzbischofs Ratzinger wie auch das seiner Vorgänger und Nachfolger für immer unscharf bleiben wird, ist gegenüber dieser Erkenntnis das kleinere Übel. Doch wenn es stimmt, was man sich in München erzählt, dann wäre Benedikt XVI. der Letzte, der sich den Vorwurf gefallen lassen müsste, er sei gegenüber Päderasten nachsichtig gewesen. Eines freilich hat die Münchner Untersuchung trotz aller Einschränkungen doch zutage gefördert: Das Profil der Täter, das die Akten zu erkennen geben, gleicht ebenso wie das der Opfer auf das erschreckendste dem Profil der Opfer und der Täter in den Vereinigten Staaten. Das Opfer ist in der Regel ein wehrloser Jungen im Alter von acht bis zwölf Jahren, der Tatort oft ein Dorf oder eine kleine Stadt, der Täter zumeist im fortgeschrittenen Alter von 45 bis 65 Jahren, in auffällig hoher Zahl alkoholkrank - und nicht selten homosexuell.

Zuletzt geändert am 14­.12.2010