19.1.2013 - Reutlinger General-Anzeiger

"Die Kirche muss im Dorf bleiben"

Konferenz - Priestermangel und immer größere Seelsorge-Einheiten: Katholiken wollen von anderen Ländern lernen

TÜBINGEN. Die Werke auf den Büchertischen im Flur tragen Titel wie »Gemeinde-Leitung durch Laien«, »Was wird jetzt aus uns, Herr Bischof?« oder »Die Kirche neu erfinden«. Drinnen im Audimax debattieren 240 Teilnehmer über Erfahrungen in Honduras, Texas, Indien oder im Kongo. Die katholischen Hilfswerke Adveniat und Missio und die katholischen Theologen der Uni Tübingen haben eingeladen, um Wissenschaftler, Bischöfe und Aktive aus vier Kontinenten zusammenzubringen. Bis Sonntag wollen sie unter anderem ausloten, was die hiesigen Pfarreien von denen in armen Ländern lernen können.



FOTO: Austausch der Erfahrungen am Eröffnungsabend (von links): Der Tübinger Theologe Albert Biesinger, Christy Orzechowski aus Peru, Pius Rutechura aus Kenia und Paulo Suess aus Brasilien.

»Die Kirche muss im Dorf bleiben, wenn sie die Menschen nicht verlieren will«, sagt Albert Biesinger. Der Tübinger Religionspädagoge blickt besorgt auf Priestermangel und immer größer werdende Seelsorge-Einheiten. Er ist überzeugt: »Wir dürfen die Gemeinden nicht nur nach der Anzahl der Priester strukturieren. Selbstverständlich brauchen die Gemeinden einen Priester. Aber sie brauchen genauso das Engagement der Getauften und Gefirmten, die selbst das Ruder in die Hand nehmen.«

Kronzeuge Ratzinger?

Basisgemeinden liefern nach Biesingers Beobachtung »eindrucksvolle Zeugnisse der Solidarität im Alltag« und ein Modell »für eine partizipative Form der Kirche«. Er plädiert dafür, die Beispiele aus anderen Ländern nicht zu kopieren, sondern einen eigenständigen Weg zu suchen. Missionswissenschaftler und Eröffnungs-Redner Paulo Suess aus Sao Paolo pflichtet ihm bei. Ohnehin gebe es nicht nur einen einzigen Typ der Basisgemeinde, sondern ganz verschiedene. Suess rät, neue Formen auszuprobieren. Und: »Der Weg muss sich lohnen, nicht erst die Ankunft.«

Biesinger weiß, dass einflussreiche Köpfe früh erkannt haben, dass sich etwas ändern müsste. Er zitiert Joseph Ratzinger, den er noch als Theologie-Professor in Tübingen erlebt hat und der 1970 schrieb, die Kirche werde in naher Zukunft »neue Formen des Amtes kennen und bewährte Christen, die im Beruf stehen, zu Priestern weihen. In vielen kleineren Gemeinden beziehungsweise in zusammengehörigen sozialen Gruppen wird die normale Seelsorge auf diese Weise erfüllt werden«. Biesinger ist sicher: »Hätte man dieses Prinzip seit 1970 Schritt für Schritt umgesetzt: Die katholische Kirche hätte heute weniger schwer zu lösende Probleme.« Höchst erfreulich ist in Biesingers Augen, dass auf der Konferenz solche bedeutenden Persönlichkeiten wie Kardinal Oscar Rodriguez, Präsident der Internationalen Caritas, von ihren Erfahrungen berichten.

Auch die Diözese Rottenburg-Stuttgart verfolgt die Diskussion aufmerksam. Domkapitular Matthäus Karrer weiß: Nicht mehr jede Pfarrei wird einen Priester haben. Bischof Thomas Dabre aus Poona (Indien) glaubt: »Für die Kirche ist es von Vorteil, wenn die Frauen aktiver sind.« Gerry Proctor aus England lobt: »Die Deutschen sind die Ersten, die so etwas in Europa probieren.«

Christliche Basisgemeinden

Die wenigen Pfarrer sind mit der Betreuung überfordert. Laien kommen zusammen, lesen gemeinsam in der Bibel und unterstützen sich gegenseitig: Gebildet haben sich die ersten Basisgemeinden noch vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil - vor mehr als 50 Jahren in Brasilien. Über die Philippinen breitete sich die Idee auch in Asien aus. Heute wird ihre Zahl allein in diesem Erdteil auf 300 000 geschätzt. In den 1970er-Jahren entstanden die ersten kleinen christlichen Gemeinschaften des afrikanischen Kontinents in Kenia und Tansania.

Prälat Klaus Krämer, Präsident des Katholischen Missionswerks Missio, sieht in ihnen »Hoffnungsträger in der Weltkirche«. Seit dem Jahr 2000 fördert Missio die Einrichtung solcher Gemeinschaften auch in Deutschland. Die Bischöfe von Lateinamerika ermunterten in der Botschaft von Aparecida ihre Pfarreien, »kleine Gemeinschaften und Vereinigungen von Laien zu bilden«.

http://www.gea.de/region+reutlingen/tuebingen/+die+kirche+muss+im+dorf+bleiben.2985221.htm

Zuletzt geändert am 21­.01.2013