18.1.2022 - merkur.de

NACHGEFRAGT bei Christian Weisner: Wahrheit muss auf den Tisch

Am Donnerstag wird das zweite Missbrauchsgutachten über die Verantwortung im Umgang mit Missbrauchsfällen im Münchner Erzbistum vorgelegt. Die Reformbewegung „Wir sind Kirche“ warnt davor, das Thema nur (kirchen-)rechtlich aufzuarbeiten. Wir sprachen mit Christian Weisner (Dachau), Sprecher des Bundesteams.

1600 Seiten, 350 allein über den Missbrauchs-Priester Peter H., der in Grafing (Kreis Ebersberg), Garching/Alz und Bad Tölz tätig war, über 80 Seiten Stellungnahme von Benedikt XVI.: Welche Bedeutung hat das Gutachten für die Kirche in Deutschland?

Das wird schon einschlagen wie ein Hammer, auch wenn viele Dinge schon bekannt sind. Wie das damals aber genau abgelaufen ist mit diesem Vielfachtäter Peter H., das ist schon hochinteressant. Es war ja ein typisches Muster: Der Täter leugnet, die Kirchenleitung vertuscht und versetzt, hier sogar in ein anderes Bistum. Auch wenn das Gutachten für manche das Idealbild von Joseph Ratzinger beschädigen wird, die entscheidenden Fragen müssen beantwortet werden: Was hat der damals im Erzbistum München und Freising zuständige Erzbischof Joseph Ratzinger vom Einsatz Pfarrer H.s in der Seelsorge gewusst? Was hätte er tun müssen, was hat er versäumt? Es gab damals ja ganz klare Auflagen, dass dieser Pfarrer H. in München nicht in der Seelsorge (mit Kindern und Jugendlichen) eingesetzt werden darf. Warum es dann doch geschah, wird weltweit auf Interesse stoßen.

Was muss passieren, damit dieser Termin zum Beginn einer Kehrtwende in der Kirche werden kann?

Die Gefahr ist, dass untersucht und untersucht wird, es aber keine Folgen hat. Es darf nicht nur juristisch aufgearbeitet werden. Wir haben in der Kirche einen hohen moralischen Anspruch an die Menschen, dem auch die Leitungskräfte gerecht werden müssen. Gerade auch im Fall von Pfarrer H.. Ich hoffe sehr, dass das neue Gutachten das auch in den Blick nimmt.

Franz-Josef Overbeck, der Bischof von Essen, nennt die Krise der Kirche existenziell. Wie kann denn eine Neu-Werdung der Kirche überhaupt gelingen?

Es gibt das überlieferte Wort Jesu „Die Wahrheit wird Euch frei machen“. Alles, was bisher passiert ist an Vertuschung, Verleugnung, an Kleinreden hat die Katastrophe nur noch schlimmer gemacht. Es ist jetzt wirklich eine existenzielle Krise, manche vergleichen sie mit der Situation zur Reformationszeit. Das Vertrauen in die Kirchenleitung ist zerstört. Das hat nicht nur bei den Opfern des Missbrauchs, sondern bei vielen anderen Menschen den Glauben erschüttert. Die ganze Wahrheit muss auf den Tisch.

Andererseits brauchen wir in der heutigen Zeit mit den vielen Krisen – der Pandemie, der Umweltkrise, kriegerischen Auseinandersetzungen – das Visionäre des Christentums. Die Religionen dürfen nicht zu reinen Zweckgemeinschaften verkommen. Wir brauchen diese christliche Hoffnung. So lange die katholische Weltkirche aber nicht an die Wurzeln des Übels geht, kann sie ihre Hoffnungsaufgabe nicht erfüllen. Wir erwarten hier viel vom „Synodalen Weg“, wo die Bischöfe mit Vertretern des Zentralkomitees der Katholiken und hochrangigen Theologen an den zentralen Reformfragen arbeiten. Das kann weiteren Missbrauch und Vertuschungen verhindern.

Interview: Claudia Möllers

Zuletzt geƤndert am 19­.01.2022