Dezember 2011 - Kirche In (Kolumne „Unzensiert“)

Wir sind 99,9 Prozent

Der arabische Frühling dieses Jahres und die Occupy-Bewegung zeigen uns deutlich: Es ist überall nur eine sehr kleine Minderheit, die über große Macht verfügt und die Menschen beherrscht. „We are 99 %“ ist deshalb die selbstbewusste Antwort bei den Protesten vor den Banken in aller Welt.

Im Zweiklassen-System der römisch-katholische Kirche müsste es sogar heißen: „Wir sind mehr als 99,9 Prozent“. Knapp 1.500 „Laien“ kommen in Europa auf einen Priester, in Afrika sind es fast 5.000 und in Mittel- und Südamerika sogar mehr als 7.000. Ganze 0,035 Prozent sind es im weltweiten Durchschnitt, die Macht und Vollmacht über die „restlichen“ 99,965 Prozent der Gläubigen beanspruchen und denen alle wesentlichen Entscheidungen vorbehalten sind.

Wird die Occupy-Bewegung auch die Bischofskirchen oder gar den Petersplatz in Rom erreichen? Viele Gläubige haben schon resigniert. Aber es gibt auch immer mehr Proteste an der Kirchenbasis: Gemeinden verweigern die Zahlung des Peterspfennigs; andere erklären die Kirchenspaltung für beendet; viele sind nicht mehr bereit, Wanderpriester von weit her zu holen. Eltern nehmen die Kommunionvorbereitung ihrer Kinder selber in die Hand. Und wenn kein kirchlich anerkannter Priester zur Verfügung steht, feiern Gruppen und Gemeinden die Eucharistie, indem sie nach dem gemeinsam gesprochenen biblischen Abendmahlsbericht das Brot brechen und untereinander teilen.

Kardinal Walter Kasper hat die Bischöfe schon vor langem gewarnt: Wenn sie – gehindert durch ihre Loyalität gegenüber Rom – nicht eigenverantwortlich sach- und situationsgerechte Lösungen für ihre Diözesen herbeiführen, so wie es ihre Hirtenverantwortung eigentlich ist, dann werden sich viele Seelsorger vor Ort nicht mehr um die nicht mehr praktikablen Normen kümmern. Der Zentralismus schlägt dann in sein genaues Gegenteil um.

Nicht der „Ungehorsam“ des Kirchenvolkes oder das theologisch begründete Handeln verantwortungsbereiter SeelsorgerInnen ist der Skandal, wie manche Bischöfe behaupten, sondern die verantwortungslose Untätigkeit vieler Bischöfe. Die sollten endlich auf den 2. Korintherbrief hören: „Nicht Herren eures Glaubens sind wir, sondern Diener eurer Freude.“ Und auf die 99,9 Prozent des Kirchenvolkes.

Christian Weisner
Wir sind Kirche Deutschland
www.wir-sind-kirche.de

Zuletzt geändert am 08­.12.2011