Aufgelesen

Homosexualität und Kirche

1. Die Grundbedürfnisse der Menschen

Alle Menschen brauchen einige Dinge, ohne die sie nicht leben können. An erster Stelle stehen Nahrung und Wasser. Wenn Menschen nichts zu essen haben, rückt dieses Problem immer mehr in den Vordergrund ihres Denkens bis sie schließlich bereit sind, ihre Mitmenschen wegen eines Stücks Brot umzubringen. Das Bedürfnis nach Nahrung und Wasser ist so elementar, dass es dafür kaum kulturelle oder religiöse einschränkende Regeln gibt. So kennen zwar die meisten Religionen Fastenregeln. Sie werden aber durch viele Ausnahmen entschärft. Die Katholiken z.B. sollten in der Fastenzeit kein Fleisch essen. Das haben sie aber schon bald dadurch umgangen, dass sie Fisch als Nichtfleisch definiert oder das Fleisch in Teigtaschen versteckt haben. Darauf gehen die schwäbischen Maultaschen zurück. Im Islam wird während des Ramadan zwar tagsüber streng gefastet, dafür aber nach Sonnenuntergang umso mehr gegessen. Das zweite Grundbedürfnis aller Menschen ist ein warmer und trockener Raum. Das wird uns bewusst, wenn im Winter die Heizung mehrere Tage ausfällt. Ohne einen schützenden warmen und trockenen Raum kann der Mensch nicht schlafen und ohne Schlaf kann er nicht leben. Das ist das dritte Grundbedürfnis der Menschen. Wenn man Ratten längere Zeit den Schlaf entzieht, sterben sie. Der Schlafentzug ist eine moderne Form der Folter. Das Bedürfnis der Menschen nach einem warmen und trockenen Raum und nach Schlaf ist wie das Bedürfnis nach Nahrung so elementar, dass es sich einer Reglementierung weitgehend entzieht.

Ganz anders verhält es sich dagegen mit dem Bedürfnis nach Sexualität. Dieses ist nicht elementar, sondern sekundär. Das heißt, wenn die Menschen nicht genug Nahrung haben, schläft ihr Sexualtrieb ein. Das Überleben ist wichtiger als die Fortpflanzung. Aber wenn die elementaren Grundbedürfnisse der Menschen befriedigt sind, meldet sich ihr Bedürfnis nach Sexualität mit solcher Macht, dass es nur mit großer Mühe unterdrückt und nur sehr schwer gezügelt werden kann.

2. Die Angst vor der Sexualität

Fast alle Kulturen und Religionen belegen die Sexualität mit vielfachen Verboten und Beschränkungen. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Der Sexualtrieb verleitet die Menschen immer wieder dazu, Dinge zu tun, die nach den sozialen Regeln und Gesetzen ihres Umfeldes unvernünftig und manchmal sogar selbstzerstörerisch sind. Die Menschen erleben die Sexualität als eine Bedrohung ihrer Vernunft. Das macht Angst und weckt Abwehr. Die sexuelle Begegnung von Männern und Frauen ist mit der Chance verbunden, dass daraus neues Leben entsteht. Dieses neue Leben braucht die dauerhafte Zuwendung zweier Eltern, damit es sich optimal entwickeln kann. Das erfordert Regeln, die den Vater dazu bringen, bei der Mutter zu bleiben und sich um das Kind zu kümmern. In patriarchalischen Gesellschaften, in denen Vermögen und Einfluss in der männlichen Linie weitergegeben werden, haben die Männer das Bedürfnis sicherzustellen, dass ihr männlicher Erbe auch tatsächlich von ihnen abstammt. Das führt zu rigiden Einschränkungen der Sexualität der Frauen: Sie müssen bei Eingehung der Ehe jungfräulich sein. Um das zu gewährleisten, werden in manchen islamischen Ländern bei den Mädchen sämtliche äußeren Geschlechtsteile (Klitoris und sowohl die kleinen als auch die großen Schamlippen) entfernt (pharaonische Beschneidung) und die Scheide anschließend vernäht, so dass die Wunde zuwächst. Nur eine winzige Scheidenöffnung für das Menstruationsblut und der Harnröhrenausgang werden offen gehalten (Infibulation). "Gefallene" Mädchen und ihre unehelichen Kinder werden sozial ausgegrenzt. Die Ehefrauen werden zu Haus eingesperrt und dürfen sich in der Öffentlichkeit nur mit Kopftuch oder ganz mit dem Schador verhüllt zeigen. Der Ehebruch von Frauen gilt als schwerwiegendes Verbrechen, das mit der Tötung der Frau geahndet wird, zum Teil sogar mit ihrer Steinigung, und zwar selbst dann, wenn sie vergewaltigt worden ist. Das Eindringen in eine fremde Ehe gilt als Eigentumsdelikt, so auch nach den zehn Geboten. Auch Homosexualität wird tabuisiert und mit zum Teil drakonischen Strafen belegt. Das gilt aber in vielen Regionen nur für diejenigen, die sich passiv wie eine Frau hingeben.

3. Diskussionen über Sexualität

Diskussionen über die einschränkenden sozialen Regeln und Gesetze, mit denen man die Sexualität "entschärfen" will, verlaufen sehr unterschiedlich, je nachdem ob man darüber innerhalb der betreffenden sozialen Systeme diskutiert oder als Außenstehender. So werden z.B. in den islamischen Ländern, in denen die Mädchen beschnitten und zugenäht werden, für und gegen diese Praxis viele Argumente vorgebracht. Man streitet darüber, ob dies der Koran und damit Gott gebietet oder nicht; ob diese Praxis die Gesundheit der Mädchen gefährdet oder sogar schützt; ob sie notwendig ist, weil die Frauen von Natur aus triebhaft sind usw. Uns als Außenstehenden muten solche Diskussionen merkwürdig an. Für uns liegt es ohne weiteres auf der Hand, dass diese Praxis eine sinnlose, gesundheitsgefährdende und menschenrechtswidrige Verstümmelung der Mädchen darstellt.

Genauso verhält es sich mit Diskussionen über Homosexualität. In den gesellschaftlichen Systemen, in denen Homosexualität geächtet und bestraft wird, werden für und gegen diese Praxis viele Argumente angeführt. Für die Außenstehenden ist das Urteil dagegen schnell klar: Wenn zwei Männer oder zwei Frauen glücklich mit einander sind, schaden sie niemand. Es gibt deshalb keinen Grund, sie zu ächten oder zu bestrafen. Aber damit will ich nicht Schluss machen, sondern mit Ihnen über Homosexualität innerhalb des gesellschaftlichen Systems "Christliche Kirchen" diskutieren. Dazu muss natürlich klar sein, worüber wir reden.

4. Unser Wissen über Homosexualität

Es ist nach wie vor ungeklärt, auf welche Weise und wodurch es zur Ausprägung einer homosexuellen Orientierung kommt. Das wird wohl auch nie eindeutig geklärt werden können, weil man mit Menschen nur sehr bedingt experimentieren kann. Die Frage nach den Ursachen der Homosexualität ist nur für diejenigen interessant, für die Homosexuelle minderwertig sind und die deshalb wissen möchten, wie man Homosexualität verhüten oder doch wenigstens heilen kann. Wenn man dagegen homosexuelles und heterosexuelles Empfinden und Verhalten als gleichwertige Ausprägungen der einen menschlichen Sexualität ansieht, wird damit die Frage nach den Ursachen der Homosexualität als das entlarvt, was sie eigentlich ist, nämlich eine vorwissenschaftliche Fragestellung. Die richtige Frage kann nur lauten: Warum empfinden Menschen hetero, homo oder bisexuell[1] , und wie können sie auf dieser Grundlage ihr Leben in der Gesellschaft sinnvoll gestalten?

Alle Sachverständigen aus dem Bereich der Psychiatrie, der Psychologie, der Sexualwissenschaft und der Pädagogik stimmen darin überein, dass die homosexuelle Prägung schon in frühester Kindheit erfolgt. Sie ist ein unabänderliches Schicksal. Es gibt zwar fundamentalistische protestantische Gruppen und Sekten, die behaupten, Homosexualität lasse sich mit Gottes Hilfe heilen. Aber es ist noch nirgendwo eine dauerhafte "Heilung" überzeugend dokumentiert worden. Homosexualität ist nicht ansteckend. Die sogenannte Verführungstheorie ist eine Juristenkonstruktion. Wenn früher Homosexuelle in Strafverfahren den Tatvorwurf nicht mehr bestreiten konnten, mussten sie versuchen, Milderungsgründe zu sammeln. Sie machten dann geltend, dass sie ihrerseits verführt worden seien und deshalb ihre "abartige" Triebrichtung nicht verschuldet hätten, vielmehr selbst Opfer seien. Dadurch entstand bei den Juristen der Eindruck, dass Homosexualität die Folge von Verführung sei. In Wirklichkeit hatten die Betroffenen ihre "Verführung" meist regelrecht provoziert, weil sie es endlich wissen wollten. Wie unsinnig die Verführungstheorie ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass nach den sexualwissenschaftlichen Erhebungen etwa 1/4 bis 1/5 der später heterosexuellen Männer in ihrer Jugend vorübergehend homosexuelle Erfahrungen macht. Bei den Frauen ist dieser Anteil niedriger, allerdings mit zunehmender Tendenz. Wenn die Verführungstheorie richtig wäre, müsste der Anteil der Homosexuellen an der Bevölkerung sehr groß sein und ständig zunehmen. Tatsächlich ist der Anteil der ausschließlich Homosexuellen jedoch konstant und offenbar unabhängig von zeitgenössischen und kulturellen Einflüssen. Er liegt bei den Männern zwischen 3,5 und 5 % und bei den Frauen zwischen 1,7 und 4,1 %[2]. Was sich ändert, ist nicht der tatsächliche Anteil der Homosexuellen, sondern ihr sichtbares Auftreten in der Öffentlichkeit, wenn ihre Verfolgung und Diskriminierung nachlässt. Gleichwohl wird immer wieder die Befürchtung geäußert, dass sich die Homosexualität wie ein Flächenbrand ausbreiten werde, wenn die Repressionen zurückgenommen würden. Typisch dafür ist etwa die Behauptung von Kardinal Ratzinger in einem Streitgespräch mit Kardinal König im Herbst 1991, die Folgen der Pille seien "zunehmende Auflösung der ehelichen Treue, Egalisierung aller sexuellen Verhaltensweisen und dadurch zum Beispiel auch eine ungeheure Explosion der Homosexualität"[3] . Ich pflege so etwas als "Dammbruchphobie" zu bezeichnen. Dabei fasziniert mich immer wieder, welche Attraktivität die Verteidiger von Ehe und Familie der Homosexualität beimessen. Sie leben offenbar in der ständigen Furcht, dass die heterosexuellen Männer der ehelichen Pflichten überdrüssig werden und der homosexuellen Lust verfallen könnten, wenn man die Homosexuellen nicht länger verfolgt. Ebenso unsinnig ist das Vorurteil, Schwule seien zwanghaft hinter Jungen her. Der Anteil der Pädophilen ist bei den Schwulen prozentual nicht höher als bei den Heterosexuellen. Demgemäß spielen schwule Pädophile in der Strafrechtspraxis kaum eine Rolle. Nach Schätzungen entfällt von den rund 1500 Verurteilungen pro Jahr wegen sexueller Handlungen mit Kindern etwa ein Drittel auf exhibitionistische Handlungen vor Kindern. Bei den restlichen zwei Dritteln handelt es sich fast ausschließlich um heterosexuelle Väter und Stiefväter, die mit ihren Töchtern und Stieftöchtern sexuelle Handlungen vorgenommen haben.

5. Platos Gleichnis von der Entstehung der Liebe

Dass die verschiedenen sexuellen Orientierungen als Schöpfungsvarianten verstanden werden können, zeigt das Gleichnis Platos (427347 v. Chr.) von der Entstehung der Liebe besonders schön[4]. Danach waren die Menschen ursprünglich Kugeln mit vier Armen, vier Beinen und zwei Gesichtern. Es gab drei Geschlechter, das männliche, das weibliche und das gemischte. In dieser Ganzheit waren die Menschen den Göttern zu mächtig. Deshalb schnitt Zeus die Menschen entzwei, wie man Beeren zerschneidet. Seitdem sucht jede Hälfte mit sehnsüchtigem Verlangen die andere Hälfte. Denn dies ist ihre ursprüngliche Naturbeschaffenheit, weil sie einst ungeteilte Ganze waren. "Und so führt die Begierde und das Streben nach dem Ganzen den Namen Liebe." Aber jeder sucht nicht irgendeine Hälfte, sondern "seine andere Hälfte". Deshalb richten die Schnittstücke "von jener gemischten Gattung ..., welche damals mannweiblich hieß, ... ihre Liebe auf die Weiber, und die meisten Ehebrecher sind von dieser Art, und ebenso wiederum die Weiber, welche mannsüchtig und zum Ehebruch geneigt sind." Die Schnittstücke von einem Weibe "richten ihren Sinn nur wenig auf die Männer, sondern wenden sich weit mehr den Frauen zu, und die mit Weibern buhlenden Weiber stammen von dieser Art. Die Männer endlich, welche ein Stück von einem Mann sind, die gehen dem Männlichen nach." "Auf Ehe und Kindererzeugung dagegen ist ihr Sinn von Natur nicht gerichtet, sondern sie werden nur vom Gesetz dazu gezwungen." In diesem Gleichnis kommen die zwei wichtigsten Erfahrungen homosexueller Menschen zum Ausdruck: Wir brauchen, um ein Ganzes zu werden, ein Du, und wir können uns das Geschlecht des zu uns passenden Du nicht aussuchen. Nur wenn die Kirchen diese Erfahrungen homosexueller Menschen akzeptieren, werden sie Kirchen für alle Menschen und damit im wahren Sinn "katholisch" sein. Sonst werden sie zu heterosexuellen Teilkirchen schrumpfen. Denn je elbstbewusster die Homosexuellen werden, desto weniger werden sie sich von ihren heterosexuellen Mitchristen weiter als Schöpfungsfehler diffamieren lassen.

6. Biblische Aussagen über die gleichgeschlechtliche Sexualität

Der Vatikan und die fundamentalistischen Protestanten verweisen demgegenüber auf die angeblich eindeutigen Verurteilungen der Bibel (Gen 19,413; Ri 19,2130; Lev 18,22; 20,13; Röm 1,1827; 1 Kor 6,911; 1 Tim 1,910)[5]. Wenn ich das höre, fällt mir die sogenannte "Reichskristallnacht" ein. Damals hatte die katholische Bevölkerung des kleinen rheinischen Städtchens, in dem ich aufwuchs, bei unseren jüdischen Nachbarn die Möbel zerschlagen und aus dem Fenster geworfen. Am nächsten Sonntag hat unser Pfarrer darüber gepredigt, dass das jüdische Volk bei der Verurteilung Jesu gerufen habe: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" (Mt 27,25). Eine solche Bibelauslegung entsprach zwar der damaligen katholischen Tradition, aber sie entsprach nicht dem Bild Gottes, das uns Jesus offenbart hat. Dieser Gott ist kein Stammesgott mehr, kein Gott der Juden oder der Christen, der Griechen oder der Römer, der Weißen oder der Schwarzen, der Hetero oder der Homosexuellen, sondern der liebende Vater aller Menschen. "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid 'einer' in Christus Jesus" (Gal 3,28). Wer etwas anderes aus den biblischen Aussagen über die gleichgeschlechtliche Sexualität herauslesen will, der verfälscht die Offenbarung Jesu. Die biblischen Aussagen sind geprägt durch die Erfahrungen eines Nomaden und Ackerbauvolks, für das die Sippe, die Familie und vor allem die Nachkommenschaft allerhöchste Werte darstellten. Deshalb empfanden die biblischen Menschen gleichgeschlechtliche Sexualität als ein Ausbrechen aus grundlegenden Ordnungen. Dabei gingen sie davon aus, dass homosexuelles Verhalten frei wählbar sei. So spricht Paulus in der bekannten Römerbriefstelle (Röm 1,2627) davon, dass Gott die Gottlosen den schimpflichsten Leidenschaften überließ, so dass die Frauen den natürlichen mit dem widernatürlichen Geschlechtsverkehr vertauschten und die Männer den natürlichen Geschlechtsverkehr aufgaben und in Begierde zu einander entbrannten.

Dieses Pauluswort trifft homosexuell liebende Menschen nicht. Für sie ist ihre Liebe die natürlichste Sache der Welt. Aber das Pauluswort trifft solche homosexuell geprägten Menschen, die sich aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung oder vor Strafverfolgung in eine Ehe flüchten. Sie vertauschen den für sie natürlichen mit dem für sie unnatürlichen Geschlechtsverkehr und fügen dadurch ihren Ehegatten und Kindern meist schweres Leid zu. Besonders verhängnisvoll für die Homosexuellen hat sich die SodomGeschichte (Gen 19,413) ausgewirkt. Sie ist immer wieder als Rechtfertigung für die Verfolgung von Homosexuellen missbraucht worden, obwohl es darin nach Auffassung der heutigen BibelExegeten gar nicht um Homosexualität, sondern genauso wie in der Parallelgeschichte über das Verbrechen der Leute von Gibea (Ri 19,2130) um die Verletzung des Gastrechts durch Notzucht und Gewalt geht. Der oströmische Kaiser Justinian (527565 n. Chr.) war der erste, der die SodomGeschichte gegen Homosexuelle verfälscht hat. Er hat sich des Mittels der Homosexuellenverfolgung bedient, um von eigenen politischen Schwierigkeiten abzulenken. Nach zahlreichen Erdbeben und schweren Pestwellen erließ er unter Berufung auf die biblische SodomGeschichte zwei Gesetze, die Homosexualität mit dem Tod und dem Verfall des Vermögens bestraften, weil Gott wegen solcher Vergehen "Hungersnot, Erdbeben und Pest sende". Dabei machte sich Justinian zunutze, dass die Engel, die die Männer von Sodom unter Verletzung des Gastrechts missbrauchen wollten, im biblischen Text einfach als Männer bezeichnet werden. Die historischen Quellen deuten darauf hin, dass Justinian diese Gesetze vornehmlich gegen Begüterte und Anhänger einer bestimmten Partei angewandt hat, wobei sogar die Aussage eines Sklaven oder eines Kindes als Beweis genügten. Nach diesem Vorbild sind im Lauf der Jahrhunderte immer wieder Homosexuellenpogrome inszeniert worden. Der Vatikan benutzt diese Argumentationskette noch heute für seine Agitation gegen die Homosexuellen. So wird beispielsweise in dem von Kardinal Ratzinger unterzeichneten "Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen" vom 30. Oktober 1986 behauptet: "Obgleich die Praxis der Homosexualität Leben und Wohlfahrt einer großen Anzahl von Menschen ernsthaft bedroht, lassen die Verteidiger dieser Tendenz von ihrem Tun nicht ab und weigern sich, das Ausmaß des eingeschlossenen Risikos in Betracht zu ziehen." "Wenn ... homosexuelles Tun folglich als gut akzeptiert wird oder wenn eine staatliche Gesetzgebung eingeführt wird, welche ein Verhalten schützt, für das niemand ein irgendwie geartetes Recht in Anspruch nehmen kann, dann sollten weder die Kirche noch die Gesellschaft als ganze überrascht sein, wenn andere verkehrte Vorstellungen und Praktiken an Boden gewinnen sowie irrationale und gewaltsame Verhaltensweisen zunehmen."[6]

7. Die sexuelle Orientierung und die Schöpfungsordnung

Dass die biblischen Aussagen über die gleichgeschlechtliche Sexualität zeitbedingte Aussagen sind, wird heute von keinem ernstzunehmenden Bibelexegeten mehr bestritten. Deshalb berufen sich konservative Protestanten statt dessen auf die Schöpfungsgeschichte (Gen 1,12,4a, 2,4b25) und darauf, dass Jesus den Pharisäern auf die Frage nach der Scheidung geantwortet hat: "Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat und dass er gesagt hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein?" (Mt 19,45; Mk 10,68). Daraus leiten diese Protestanten ab, dass nur die heterosexuelle Ehe gottgewollt sei[7] und dass Homosexuelle hinter dem Schöpfungsangebot zurückblieben. Deshalb dürften Lebenspartner nicht getraut oder wenigstens gesegnet werden und schwule Pfarrer und lesbische Pfarrerinnen nicht mit ihren Lebenspartnern im Pfarrhaus leben[8]. Von dem, was die Kirche tue und was ein Pfarrer oder eine Pfarrerin lebe, dürfe keine dem Leitbild der Ehe entgegengesetzte Signalwirkung ausgehen[9] . Die beschriebene Deutung der beiden biblischen Schöpfungsberichte ist weder mit ihrem exegetischen Gehalt noch mit der reformatorischen Sicht der Ehe als einem "weltlichen Ding" vereinbar. Sie ist nichts anderes als ein Ausdruck der von mir schon erwähnten "Dammbruchphobie". Man befürchtet offenbar, dass ein schwuler Pfarrer, der mit seinem Partner im Pfarrhaus glücklich zusammenlebt, die Gemeinde vom rechten Weg der Ehe abbringen könnte. Das ist natürlich Unsinn. Ob eine Partnerschaft im guten Sinn beispielgebend ist, hängt nicht vom Geschlecht der Partner ab, sondern allein davon, wie sie mit einander umgehen. Davon abgesehen brauchen auch homosexuelle Jugendliche Vorbilder. Das Leben vieler älterer Homosexueller wäre sicher sehr viel geradliniger und sinnvoller verlaufen, wenn sie in ihrer Jugend in ihrer Nähe ein schwules Lehrer oder Pfarrerpaar erlebt hätten. Außerdem frage ich mich, welches Gottesbild diese Kirchenleute haben, die eine ganze Gruppe von Menschen als Schöpfungsfehler abstempeln. Wer hat denn die Homosexuellen so falsch geschaffen? War das der Teufel? Oder will man Gott die Verantwortung für eine solche Unordnung zuschieben? Was ist das für ein Gott, der Menschen so "unordentlich" bzw. so "falsch" erschafft, dass sie sich in einem ausweg und hoffnungslosen Gefängnis unentrinnbaren Sündigenmüssens wieder finden? Ich habe den Eindruck, dass die Vertreter dieser Thesen Gott kleiner machen wollen, als er ist. Sie sind nicht bereit, Gottes vielfältige Schöpfung so anzunehmen, wie Gott sie gemacht hat, sondern maßen sich ein Urteil darüber an, was an Gottes Schöpfung gut und was "unordentlich" ist und was deshalb wie "Unkraut" bekämpft und ausgerottet werden muss. Dem hat Jesus seine befreiende Botschaft entgegengesetzt, dass Gott auch diejenigen liebt, die wir ablehnen, weil sie anders sind als wir.

8. Die kirchenpolitische Bedeutung der Homosexuellenfrage

Die evangelischen Theologen, die die Homosexuellen mit der Bibel erschlagen wollen, verlieren immer mehr an Boden. Deshalb bin ich guten Mutes, dass die Protestanten die Homosexuellen auf die Dauer in ihre Kirchen integrieren werden, wie sie ja auch die Gleichberechtigung der Frauen gegen den Wortlaut der Bibel akzeptiert haben. Bei den Katholiken sieht die Sache dagegen anders aus. Die Katholiken fragen nicht, was die Bibel sagt, sondern nur, was Rom sagt. Für den Vatikan hat das Problem jedoch eine ganz andere Dimension. Für ihn geht es um den Fortbestand der jahrhundertelang tradierten und verteidigten katholischen Sexualmoral. Für diese Lehre ist nicht der Gegensatz zwischen homo und heterosexuell grundlegend, sondern ob ein Sexualakt natürlich oder unnatürlich ist, das heißt im Klartext, ob ein Akt auf Zeugung gerichtet ist oder nicht. Deshalb trifft das Verdammungsurteil nicht nur die Homosexualität, sondern auch die Masturbation und die sogenannte künstliche Empfängnisverhütung. Infolgedessen würde das ganze Lehrgebäude zusammenbrechen, wenn der Vatikan auch nur in einem dieser Punkte einlenken würde.

9. Die katholische Sexualmoral

Am Anfang der katholischen Sexualmoral steht ausgerechnet wieder Plato. Er hat als alter Mann in seinen "Gesetzen" leider nicht mehr über die Liebe, sondern darüber spekuliert, wie die Ordnung des idealen Staates beschaffen sein sollte. Dabei ging es ihm auch um die Vermehrung der Bevölkerung. Deshalb hat Plato gefordert, "dass man nur den naturgemäßen Umgang pflege, um Kinder zu erhalten", und dass "Mann gegen Mann sich enthalte, nicht absichtlich das Menschengeschlecht schon im Entstehen umbringe[10] , nicht auf Fels und Stein seinen Samen vergeude, wo er niemals Wurzeln fassen und in sein natürliches Wachstum kommen kann, dass man sozusagen auch jedes weibliche Ackerfeld meiden soll, wo man das Aufgehen des Samens nicht wünscht"[11] . Plato meint deshalb: "Soviel muss man einsehen, dass der weiblichen und männlichen Natur, wenn sie zum Zwecke der Fortpflanzung ihre geschlechtliche Vereinigung eingehen, die damit verbundene Lust naturgemäß gegeben scheint; aber Mann mit Mann, oder Weib mit Weib das ist widernatürlich, und wer sich dessen zuerst erfrechte, hat nur im zügellosen Übermaß der Wollust gehandelt."[12] Diese Vorstellungen vom richtigen Gebrauch der Sexualität setzten sich in den folgenden Jahrhunderten immer mehr durch. Besondere Bedeutung erlangte in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten die Stoa, eine philosophischreligiöse Bewegung, die es als Ideal ansah, naturgemäß zu leben. Dabei wurde die Vernunft überbetont, und alle Lust, weil der Vernunft entgegenwirkend, abgelehnt. Als weise galt der von der Lustempfindung Unberührte, weil die Lust nach der Vorstellung der Stoiker die Vernunft beeinträchtigte. Noch radikaler waren in den ersten christlichen Jahrhunderten die philosophischreligiöse Bewegung der Gnosis und die religiöse Bewegung des Manichäismus. Beide sahen im Leib das Werk des Ungeistes, also des Teufels, und lehnten deshalb Ehe und Fortpflanzung als Dienst an diesem Leib ab. Von solchem Sexualpessimismus ist auch Paulus geprägt. Er gibt der Ehelosigkeit eindeutig den Vorzug (1 Kor 7). Paulus meint, bei sexueller Enthaltsamkeit könne man besser beten (1 Kor 7,5), und der Unverheiratete sei weniger an die Welt gebunden, er könne sich daher besser dem Herrn widmen (1 Kor 7,3235). Die Ehe ist für ihn nur eine Konzession an die menschliche Schwäche: "Wegen der Gefahr der Unzucht soll aber jeder seine Frau haben, und jede soll ihren Mann haben" (1 Kor 7,2). "Es ist besser zu heiraten, als sich in Begierde zu verzehren" (1 Kor 7,9). Drewermann bezeichnet diese Sicht der Ehe treffend als "legitimierten Hurenstand"[13] .

Alle diese Vorstellungen beeinflussten die frühen Kirchenväter sehr stark und führten schließlich zu den verhängnisvollen Vorstellungen des Augustinus, die noch heute das Denken der katholischen Kirche bestimmen. Nach der Lehre des heiliggesprochenen Kirchenvaters entsprach der Paradiesesmensch dem stoischen Ideal: Vor dem Sündenfall habe der Mensch ohne jede Leidenschaft gezeugt, wobei er über seine Genitalien willentlich verfügt habe wie über seine Finger; seit dem Sündenfall aber seien die Genitalien dem Menschen zur Strafe ungehorsam. Deshalb hat Augustinus zwar nicht die Sexualität als solche, wohl aber die mit ihr verbundene Lust als Folge des Sündenfalls und als Bedrohung der Vernunft strikt abgelehnt. Als einzigen guten Gebrauch dieses Übels ließ Augustinus nur die Zeugung eines Kindes zu, weil dadurch die Bewohner des Gottesreiches vermehrt würden. Im frühen Mittelalter wurden dann die Lehren des Augustinus von manchen Autoren noch verschärft. Man bezeichnete jetzt jede sexuelle Betätigung als sündhaft, so dass man sich selbst den Vorgang der Zeugung schon nicht mehr sündenlos vorstellen konnte. Kriterium für das Maß der Sündhaftigkeit war das Ausmaß der erfahrenen Lust. Der Koitus mit einer schönen Frau war also sündhafter als der mit einer hässlichen!

Thomas von Aquin und die mittelalterlichen Scholastiker übernahmen die augustinische Lehre von der Pardiesesehe und teilten die Angst vor der Lust als Bedrohung der Vernunft. Anknüpfend an den griechischen Philosophen Aristoteles sahen sie in der Frau einen Fehler der Natur, der aber für die Zeugung notwendig sei. Sie erkannten aber, dass die Lust zur menschlichen Natur gehört, und werteten sie deshalb nicht mehr länger als Kriterium der Sünde. Für sie war entscheidend, ob ein Akt naturgemäß erfolgt oder nicht. Ausgehend von der Anatomie der Genitalien und ihrem bei den Tieren beobachteten "richtigen Gebrauch" vertraten sie die Auffassung, dass nur derjenige geschlechtliche Akt "in naturam", also naturgemäß, erfolge, bei dem die Zeugung nicht ausgeschlossen sei, sondern nur durch Zufall ausfalle. Strittig blieb lediglich, ob der Wille zum Kind bei jedem einzelnen Akt vorhanden sein müsse, oder ob es genüge, diese Intention für die Ehe als ganze zu verlangen. Demgemäß war die Vergewaltigung der eigenen Mutter für die Scholastiker moralisch weniger verwerflich als die Masturbation; denn die Vergewaltigung der eigenen Mutter sei anders als die Masturbation auf Zeugung angelegt und somit "in naturam". Ich kann dieses Denken nicht nachvollziehen. Es postuliert eine vorgegebene "natürliche" menschliche Sexualität, die es so nicht gibt. Die menschliche Sexualität ist ganz und gar kulturgeprägt. Sie ist zudem nicht auf Brunftzeiten beschränkt. Der Mensch ist von früher Jugend bis ins hohe Alter durchgängig sexuell aktiv. Innerhalb dieser lebenslangen sexuellen Aktivität können nur ganz wenige sexuelle Akte tatsächlich der Zeugung dienen. Wer gleichwohl nur die auf die Zeugung neuen Lebens angelegte Sexualität als natürlich gelten lassen will, stuft damit entweder die Menschen als weitgehend pervers ein oder muss zu solchen sophistischen Denkfiguren seine Zuflucht nehmen wie die, dass der Beischlaf zwischen älteren Menschen zwar weder tatsächlich noch nach der Vorstellung der Partner, wohl aber seiner äußeren Form nach auf Zeugung angelegt sei. Auf diese Weise verkommt die katholische Sexualmoral zu einer reinen Aktmoral. Das wird beim Problem der Empfängnisverhütung besonders deutlich. Nach katholischer Auffassung sind für ihre moralische Bewertung letztlich nicht die Motive der Beteiligten, sondern ist die von ihnen angewandte "Methode" ausschlaggebend. Einen solchen Rigorismus vertritt die katholische Kirche sonst nur noch bei der Abtreibung. Dagegen hat sie keine Schwierigkeiten, die Tötung von Menschen moralisch zu rechtfertigen, wenn die Motive der Tötenden gut sind, weil sie etwa in Notwehr handeln oder ihre Heimat verteidigen wollen.

10. Die katholische Hierarchie

Die katholische Hierarchie ist sich darüber im klaren, dass es für ihre Sexualmoral in der Bibel keinen Beleg gibt. Sie beruft sich deshalb darauf, dass Christus seine Kirche als die Säule und das Fundament der Wahrheit gegründet hat und dass diese unter dem Beistand des Heiligen Geistes nicht nur das geoffenbarte positive Gesetz, sondern auch die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem Wesen des Menschen selbst hervorgehen, ohne Irrtum authentisch interpretiert.[14]

Die Verbindlichkeit der katholischen Sexualmoral wird damit letztlich auf den hl. Geist zurückgeführt, der die katholische Kirche angeblich zuverlässig vor jeglichen Irrtümern bewahrt. Das macht die katholische Hierarchie gleichzeitig unfähig, die über Jahrhunderte hinweg verteidigte Sexualmoral zu korrigieren. Denn damit würde sie Zweifel an ihrer Unfehlbarkeit herausfordern.

Dieses Argument hat schon bei der Enzyklika Humanae vitae Papst Pauls VI. aus dem Jahr 1968, der sogenannten Pillenenzyklika, den Ausschlag gegeben[15]. Im Frühjahr 1963 hatte Johannes XXIII. eine Kommission von acht Fachleuten über Empfängnisverhütung und Bevölkerungsprobleme eingesetzt. Paul VI. erweiterte die Kommission sukzessiv auf zuletzt 60 Mitglieder[16]. Von ihnen waren am Ende der Beratungen 90 % für eine Änderung der traditionellen katholischen Lehre über die Empfängnisverhütung, wie sie Pius XI. 1930 in der Enzyklika Casti connubii formuliert hatte. In der von Paul VI. danach eingesetzten bischöflichen Überprüfungskommission ("Kardinalskommission") war nur ein Drittel für die alte Lehre. Die Minderheit setzte sich aber mit dem Argument durch, es sei undenkbar, dass der hl. Geist 1930 mehr bei der anglikanischen als bei der römischen Kirche gewesen sei[17]. Die anglikanische Kirche hatte nämlich 1930 ihre bisherige Verdammung der Empfängnisverhütung aufgegeben. Tatsächlich hat die Enzyklika Humanae vitae nicht die römische Autorität gestärkt, sondern war der Beginn des moralischen Schismas, an dem die katholische Kirche heute leidet. Damit meine ich, dass sich selbst die gläubigen Katholiken in der Mehrzahl nicht mehr an das halten, was Rom dekretiert. Der hl. Geist weht eben, wo er will, nicht nur im Vatikan. Für mich als Homosexuellen folgt aus diesen Erfahrungen, dass ich mir in der katholischen Kirche eine Akzeptanz höchstens auf Gemeindeebene vorstellen kann. Dagegen erwarte ich nicht, dass die römische Hierarchie ihre Haltung gegenüber den Homosexuellen jemals ändern wird; denn dann ließe sich die gesamte überkommene katholische Sexualmoral nicht mehr halten. Zu solch grundlegenden Reformen ist die katholische Hierarchie nach meiner Einschätzung nicht fähig, solange sie am Unfehlbarkeitsdogma festhält. Diese Machtbasis wird Rom aber wohl nie aufgeben. Das zeigt auch der Fall Hans Küng. Rom hat mit dem Entzug der Lehrerlaubnis lange gezögert. Erst als Küng in einem Geleitwort zu dem 1979 erschienenen Buch von A. B. Hasler über die Unfehlbarkeit des Papstes[18] dieses Dogma nicht bloß wie 1970[19] in Frage stellte, sondern ganz ablehnte, ging alles sehr schnell. Denn das Unfehlbarkeitsdogma hat die Funktion eines MetaDogmas, das alle anderen Dogmen und damit verbundenen zahllosen Doktrinen und Praktiken abdeckt und absichert[20]. Außerdem halte ich die katholische Kirche auch aufgrund ihrer Struktur insgesamt für reformunfähig. Diese ähnelt der Struktur der totalitären östlichen Diktaturen, deren Zusammenbruch wir miterlebt haben. Wie dort liegt in der katholischen Kirche die gesamte Macht bei einer Riege alter Männer, die nur Gleichgesinnte in ihren Kreis aufrücken lassen. Solche Männer haben nie eine erfüllte Partnerschaft erlebt, sondern ihr ganzes Leben lang gegen ihre Sexualität angekämpft und unter ihrer Sexualität gelitten. Wie sollen die begreifen, dass ihnen grundlegende menschliche Erfahrungen fehlen? Sie müssten sich ja eingestehen, dass sie sich selbst verstümmelt haben: "Eunuchen für das Himmelreich" (Mt 19,12).

Ich denke deshalb, dass nicht nur das Unfehlbarkeitsdogma, sondern auch das Zölibat ein wesentliches Hindernis für die Integration der Homosexuellen in die katholische Kirche ist. Solange die maßgebenden Männer in der Kirche sich selbst keine Sexualität gestatten, werden sie sich kein Gewissen daraus machen, dass sie den Homosexuellen das Menschenrecht auf eine sexuelle Partnerschaft absprechen. Im Gegenteil, die Unterdrückung der eigenen Sexualität kann zu besonderen Aggressionen gegen diejenigen führen, die das ausleben, was man sich selbst nicht erlaubt und wovor man phobische Angst hat. Homosexuelle sind nach meiner Erfahrung besonders oft Opfer von Aggressionen aufgrund unterdrückter eigener homosexueller Anteile der Aggressoren. Solche Mechanismen vermute ich auch hinter den besonders wütenden Angriffen einzelner katholischer Würdenträger gegen Homosexuelle. So hat z.B. einer meiner Freunde 1990 beim Berliner Katholikentag dem verstorbenen Erzbischof Dyba ein Flugblatt der HuK[21] an die katholischen Seelsorger übergeben wollen. Während Kardinal Meisner das Flugblatt freundlich entgegennahm und es seinem Sekretär "zur Aufbewahrung" gab, weigerte sich Erzbischof Dyba, ein Flugblatt der HuK überhaupt anzunehmen. Als ihm mein Freund daraufhin er klärte, er solle das Blatt doch nehmen, weil sein Inhalt wichtig sei, ergriff er das Flugblatt, warf es auf die Erde und trampelte darauf herum. Man muss nicht Sigmund Freud sein, um daraus abzuleiten, dass diese Aggressivität nicht nur dem Flugblatt galt.

Ähnliche Zusammenhänge vermute ich bei Kardinal Ratzinger, der sich immer wieder durch besonders scharfe Äußerungen gegen Homosexuelle glaubt hervortun zu müssen. Einige davon habe ich bereits zitiert. Auf derselben Linie liegt seine Aufforderung vom Juli 1992 an die USamerikanischen Bischöfe, sie sollten sich nachdrücklich gegen eine rechtliche Gleichstellung der Homosexuellen in der bürgerlichen Gesellschaft einsetzen. Den Homosexuellen dürfe nicht derselbe Diskriminierungsschutz zugebilligt werden wie ethnischen oder rassischen Minderheiten. Schwule, die ihre Homosexualität kundtun, müssten wie ansteckende Kranke behandelt werden.[22]

11. Die katholische Seelsorge

In ihrem Schreiben von 1986 hat die Kongregation für die Glaubenslehre die Bischöfe "ermutigt", für die homosexuellen Personen in ihren Bistümern eine Pastoral zu fördern, die in voller Übereinstimmung mit der Lehre der Kirche steht[23]. Die Seelsorger sollen also den Schwulen und Lesben klarmachen, dass es für sie nur die Wahl zwischen völliger Enthaltsamkeit[24] oder ewiger Verdammnis gibt; denn auch Masturbation ist ein "schwerer Verstoß gegen die sittliche Ordnung"[25] . Zu welchen Neurosen es kommen kann, wenn Schwule solche Vorstellungen verinnerlichen, kann man zum Beispiel in den Tagebüchern des Bayernkönigs Ludwig II. nachlesen.[26] In der Praxis sind die meisten Seelsorger heute menschlicher. Sie halten sich an das Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre aus dem Jahr 1975, in dem es noch vermittelnd geheißen hatte, dass es "unheilbare" Homosexuelle gebe, deren Schuldhaftigkeit mit Klugheit beurteilt werden müsse.[27] Zu einer weitergehenden Lebenshilfe sind die Seelsorger aber schon mangels Vorbildung meist nicht in der Lage. Das betrifft vor allem junge Schwule und ihre Eltern. Die Jungen werden mit Bemerkungen abgespeist wie, das komme in der Pubertät schon mal vor und gehe wieder vorbei, der Junge solle sich ein Mädchen suchen. Den Eltern wird geraten, sie sollten mit ihrem Sohn zum Arzt gehen. Wenn Lesben und Schwule zu sich selbst gefunden haben und so leben, wie Gott sie geschaffen hat, werden sie von der Seelsorge gänzlich alleingelassen. Sie leben dann gewissermaßen in einem moralischen Niemandsland. Alles, was sie tun, ist sowieso schwere Sünde, eine differenzierende Ethik gibt es für sie nicht. Gelegentlich ermahnen Seelsorger die Schwulen, wenigstens nicht promiskuitiv zu leben, sondern sich einen festen Partner zu suchen. Das mag angesichts der AIDSGefahr zweckmäßig sein. Aber wenn sich Schwule auf Sexualpraktiken beschränken, bei denen ein gesundheitliches Risiko nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen ist, warum soll dann eine flüchtige sexuelle Begegnung schwuler Männer, die Lust auf einander haben, per se schlechter sein als Sex in einer partnerschaftlichen Beziehung? Ich denke, entscheidend ist in beiden Fällen allein, wie die Betroffenen miteinander umgehen. Für Homosexuelle besitzt die Sexualität einen ganz anderen Stellenwert als für Heterosexuelle. Der Frankfurter Sexualwissenschaftler Professor Dr. Sigusch behauptet, die sexuelle Aktivität nehme bei Heterosexuellen nach der Pubertät zwar langsam, aber doch stetig ab; bei Schwulen verlaufe sie dagegen bis ins Alter auf hohem Niveau. Das beruht sicher nicht auf einem ontologischen Unterschied, sondern ist eine Folge davon, dass der Weg zur Selbstakzeptanz für Schwule so schwer ist und dass sie gerade wegen ihrer Sexualität immer wieder als "Abartige" gebrandmarkt werden und schwere Benachteiligungen hinnehmen müssen. Schwule erleben deshalb eine erfüllte Partnerschaft mit ganz anderer Intensität. Lesben und Schwule haben aber kaum eine Möglichkeit, das Glück einer solchen Partnerschaft in die Begegnung mit Gott im Gottesdienst hineinzunehmen. Es gibt in der Kirche keinerlei Spiritualität der sexuellen Liebe. Es gibt zwar unzählige Dankgebete dafür, dass man satt geworden ist, aber kein einziges dafür, dass man mit seinem Partner oder seiner Partnerin eine beglückende, unvergessliche Nacht erlebt hat. Das "Hohe Lied", der leidenschaftliche Wechselgesang zweier Liebender, ist von der Kirche immer allegorisch umgedeutet worden. Die Theologen haben zwar viel über die eheliche Liebe nachgedacht, aber nur unter dem Aspekt, ob und wann sich Eheleute der schweren oder der lässlichen Sünde schuldig machen, wenn sie beim ehelichen Umgang die Lust nicht vermeiden oder gar suchen. Noch die vor knapp 40 Jahren erschienene Ausgabe der Moraltheologie von Bernhard Häring enthält lange Ausführungen über das Problem, ob und wann ehelicher Geschlechtsverkehr aus bloßer Sinnenlust sündhaft ist[28]. Ganz in diesem Sinn hat Papst Johannes Paul II. im Sommer 1980 das Wort Jesu aus der Bergpredigt umgedeutet, dass schon Ehebruch begeht, wer eine Frau auch nur lüstern ansieht (Mt 5,2728). Nach Meinung unseres Papstes gilt dieses Wort auch für den Umgang der Eheleute untereinander[29]. Das hat damals den SpiegelHerausgeber Augstein zu einem wütenden Kommentar veranlasst[30].

Die katholischen Eheleute hatten diese Verteufelung der Lust früher ganz verinnerlicht. So weiß ich etwa von meinen Eltern, dass sie sonntags nicht gewagt haben, zur Kommunion zu gehen, wenn sie in der Nacht vorher Geschlechtsverkehr gehabt hatten. Es gibt demgemäß in der katholischen Kirche keine Ehepaare, die heiliggesprochen worden sind. Heiliggesprochen werden nur zölibatäre Kleriker und Ordensleute, Jungfrauen und Witwen sowie Ehemänner, die nach dem angeblichen Vorbild des hl. Josef die Ehe mit ihrer Frau nicht vollzogen haben, wie z.B. Kaiser Heinrich II.[31] , oder Ehemänner, die ihre Frauen und Kinder verlassen haben, wie zum Beispiel Augustinus oder Nikolaus von der Flüe. Wie sollen sich in einer solchen Kirche Lesben und Schwule heimisch fühlen, deren Herz vor Glück überfließt, weil sie jemanden gefunden haben, von dem sie allen sagen möchten: "Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch" (Gen 2,23).

12. Das Glück des einzelnen und das Wohl der Allgemeinheit

Die katholische Kirche sorgt sich nur um die Fortpflanzung und darum, dass der einzelne nicht seiner Lust folgt, sondern ordentlich funktioniert. Dagegen kümmert es sie nicht, ob der einzelne mit dieser Ordnung psychisch zurechtkommt oder ob er unter ihr zerbricht. Wen diese Ordnung überfordert, der muss sein Kreuz auf sich nehmen[32] und wie Maria sein Leben aufopfern: "Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast." (Lk 1,38). Dem möchte ich entgegenhalten: Gott will, dass wir glücklich sind, wie könnte er sonst unser liebender Vater sein? Und er will auch, dass wir glücklich werden in der sexuellen Begegnung mit einem anderen, der von unserer Art ist. So hat uns Gott geschaffen und deshalb können wir nur so zum vollen Menschsein gelangen.


Manfred Bruns (71) war bis zu seiner Pensionierung Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe.

[1]So schon S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt/Main 1991, S. 48. [2]Vgl. Dannecker, Martin: Sexualwissenschaftliches Gutachten zur Homosexualität – In: Basedow, Jürgen, u.a. (Hrsg.): Die Rechtsstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften, Tübingen 2000, S. 335350. [3]Auch die Religion bedarf der Reinigung, in: Die Zeit v. 29.11.1991, S. 21, 22. [4]Plato, Sämtliche Werke I, Berlin/Heidelberg 1950, S. 681685 (190 A 193 B). [5]Vgl. das "Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen" vom 30.10.1986, Nr. 5, 6 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 72, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1986). Ebenso die "Erwägungen der Kongregation für die Glaubenslehre zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen" vom 03.06.2003 unter I 4 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 162, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2003). [6]A.a.O., Nr. 9, 10. Diese Aussagen sind im Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die USamerikanischen Bischöfe der katholischen Kirche vom Juli 1992 ausdrücklich bekräftigt worden, L 'Osservatore Romano v. 14.08.1992, S. 2, Nr. 1 ff. [7]Genauso das "Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen" vom 30.10.1986, a.a.O., Nr. 6, und die "Erwägungen der Kongregation für die Glaubenslehre zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen" vom 03.06.2003, a.a.O., unter I 3. [8]Vgl. EKDTexte Nr. 57: Mit Spannungen leben. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema "Homosexualität und Kirche", 1996, S. 47 ff. Vgl. außerdem EKD: Theologische, staatskirchenrechtliche und dienstrechtliche Aspekte zum kirchlichen Umgang mit den rechtlichen Folgen der Eintragung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz, September 2002, unter I 2 und III 2 b (3). [9]In einem Schreiben des damaligen Ratsvorsitzenden der EKD Präses Kock vom 18.09.2001 an die Gliedkirchen heißt es: "Ich weiß, dass wir in diesen Fragen nicht an allen Punkten ganz einig sind. Umso wichtiger ist es, aufeinander zu hören und uns nicht gegeneinander ausspielen zu lassen. Die Frage der Segnung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften ist kein Adiaphoron, bei dem wir uns frei fühlen könnten, so oder auch ganz anders zu entscheiden. Wenn eine kirchliche Segenshandlung an den Übergangsstellen des Lebens, die ‚Einwilligung Gottes’ zum Ausdruck bringt, dann haben wir es bei der Frage der Segnung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften unvermeidlich mit dem Verständnis der Aussagen von Schrift und Bekenntnis zu tun. Das aber kann nicht einer Mehrheitsentscheidung überantwortet werden, sondern ist auf den magnus consensus angewiesen." (zitiert nach dem EKDPapier vom September 2002, a.a.O.). Ebenso Rainer Mainusch: Aktuelle kirchenrechtliche und kirchenpolitische Fragestellungen im Pfarrerdienstrecht, ZevKR 2002, 1, 41 f. Unter http://huk.org/aktuell/segnunguebersicht.htm findet man eine Übersicht über den Stand der Diskussion in den Kirchen hinsichtlich der Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. [10]Früher hatte man von den menschlichen Fortpflanzungsorganen eine völlig falsche Vorstellung. Der männliche Same galt bis ins 19. Jahrhundert hinein als fertiger Homunkulus, also als fertiger kleiner Mensch. In der Frau sah man nur das Gefäß, das den Homunkulus aufnimmt und in dem er heranreift (vgl. die entsprechenden Anrufungen der Lauretanischen Litanei). Demgemäß galt jede männliche Ejakulation außerhalb des empfängnisbereiten weiblichen Schoßes als ein QuasiMord. [11]Plato, Sämtliche Werke III, a.a.O., 489/490 (838 E). [12]Ebd., 233 (636 C). [13]E. Drewermann, »Heute muss die Reformation eine Revolte sein«. Was sich in der katholischen Kirche ändern müsste, in: PublikForum v. 14.08.1992, Dossier S. 6. [14]Vgl. die "Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zu einigen Fragen der Sexualethik" vom 29.12.1975, Nr. 4 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 1, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1976). [15]Vgl. L. Kaufmann, Ein ungelöster Kirchenkonflikt: Der Fall Pfürtner, Freiburg 1987, 4059; B. Häring, Meine Erfahrung mit der Kirche, Freiburg/Basel/Wien 21989, 8494. [16]Nach B. Häring soll die Kommission zuletzt 75 Mitglieder gehabt haben. [17]In einem Votum, dass vier Theologen der Mindermeinung dem Papst vorlegten, heißt es: »Wenn erklärt werden würde, Empfängnisverhütung sei nicht in sich schlecht, dann müsste aufrichtigerweise zugegeben werden, dass der Heilige Geist 1930, 1951 und 1958 den protestantischen Kirchen beigestanden hat und dass er Pius XI., Pius XII. und einen großen Teil der Katholischen Hierarchie ein halbes Jahrhundert lang nicht vor einem schweren Irrtum geschützt hat, einem höchst verderblichen für die Seelen; denn es würde damit unterstellt, dass sie höchst unklug Tausende und Tausende menschlicher Akte, die jetzt gebilligt würden, mit der Pein ewiger Strafe verdammt hätten« (zitiert nach HerderKorrespondenz 21, 1967, 436). [18]A. B. Hasler, Wie der Papst unfehlbar wurde. Macht und Ohnmacht eines Dogmas. Mit einem Geleitwort von Hans Küng, München/Zürich 1979. [19]Vgl. H. Küng, Unfehlbar? Eine Anfrage, Zürich/Einsiedeln/Köln 1970. [20]So H. Küng, in: A. B. Hasler, Wie der Papst unfehlbar wurde, a.a.O., XXVI. [21]Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche (HuK) e.V. [22]Vgl. das Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die USamerikanischen Bischöfe vom Juli 1992, a.a.O., Nr. 12. [23]Vgl. das "Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen" vom 30.10.1986, a.a.O., Nr. 15. [24]Vgl. ebd., Nr. 12: "Homosexuelle Personen sind, wie die Christen insgesamt, dazu aufgerufen, ein keusches Leben zu fuhren." [25]"Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zu einigen Fragen der Sexualethik" vom 29. 12.1975, a.a.O., Nr. 9 und 10. [26]Das geheime Tagebuch König Ludwigs II. von Bayern 18691886. Erläutert und kommentiert von S. Obermeier, München 1986. [27]Vgl. die "Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zu einigen Fragen der Sexualethik" vom 29.12.1975, a.a.O., Nr. 8. Dagegen ausdrücklich das "Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen" vom 30.10.1986, a.a.O., Nr. 3, 11. [28]Vgl. B. Häring, Das Gesetz Christi III, München/Freiburg 81967, S. 334 ff., 371/372. [29]Generalaudienzen vom 1. und 8. Oktober 1980, in: L'Osservatore Romano v. 10.10.1980,S. 2, sowie v. 17.10.1980, S. 1 f. [30]In: Der Spiegel v. 3.11.1980, S. 34 f. [31]Vgl. G. Denzler, Die verbotene Lust. 2000 Jahre christliche Sexualmoral, München/Zürich 1988, S. 288 f. [32]Vgl. das "Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen" vom 30.10.1986, a.a.O., Nr. 12: "Grundsätzlich sind sie [die homosexuellen Personen] dazu aufgerufen, den Willen Gottes in ihrem Leben zu verwirklichen, indem sie alle Leiden und Schwierigkeiten, die sie aufgrund ihrer Lage zu tragen haben, mit dem Kreuzesopfer Christi vereinigen."