Aufgelesen
Was der Papst selber glaubt

Benedikt XVI. will »Pluralismus und Relativismus« bekämpfen – mit einer dogmatischen Scholastik aus dem 19.Jahrhundert.
Erster Teil einer Serie über den Papst


Als Papst Benedikt XVI. noch Kardinal Ratzinger war, erklärte er den »Relativismus zum zentralen Problem für den Glauben in unserer Stunde«. Das sagte er als Leiter der obersten katholischen Glaubensbehörde, der Bibelkommission und der Internationalen Theologenkommission. Und damit hat er ein Schlüsselwort seiner Theologie genannt. Mit ihm erschließen sich sowohl die Aktionen des obersten Glaubenshüters Ratzingers als auch die bisherigen Taten und Worte des Papstes Benedikt XVI. Verstehen lässt sich so auch, warum dieser Papst den meisten Projektionen der Kardinäle entsprach, die ihn wählten: Sie erhoffen sich von ihm, dass er den Relativismus und Pluralismus erfolgreich zurückdrängt und ihrer Position so neue Plausibilität verschafft. Denn die Plausibilität bischöflichen und lehramtlichen Verhaltens ist inner- wie außerkirchlich so geschwunden, dass die Kirche um ihren Einfluss auf gesellschaftliche Gesamtprozesse fürchten muss. Daher schon die heftige Demokratiekritik des Vorgänger-Papstes. Der sprach von einer »Diktatur der Mehrheit«, wenn es um Abtreibungsfragen und die staatliche Anerkennung homosexueller Verbindungen ging. Darin ist der heutige Papst Ghostwriter und Vollstrecker seines Vorgängers in einer Person.

Allseits wird Benedikt XVI. wegen seiner intellektuellen Schärfe innerhalb und außerhalb der Kirche gelobt. Wer aber genauer hinschaut, erkennt unschwer: Was wie intellektuelle Schärfe erscheint, ist letztlich nichts anderes ist als der perfektionierte Bau kirchlicher Lehre und Hierarchie mit den Mitteln der vormodernen Theologie und der spätantiken Apologie (Glaubensverteidigung). Dass dazu einiges an rhetorischem Geschick und an theoretischer Akrobatik gehört, ist geschenkt. Aber kommt dabei die theologische Auseinandersetzung auf die Höhe der Zeit? Auf die Höhe der heutigen theoretischen Diskurse, der theologischen Anfragen, der existenziellen, sozialen und politischen Widersprüche der Menschen in ihren Kontexten? Nein. Was in den Texten und Äußerungen Ratzingers und neuerdings Benedikts XVI. anzutreffen ist, sind sprachlich modernisierte spätscholastische Behauptungen und Argumente, die so auch schon vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1965-1969) zu lesen waren. Natürlich werden heutige Fragestellungen aufgenommen. Aber nicht so, dass der begründete Eindruck besteht, sie seien wirklich verstanden und in ihrem Recht auch anerkannt worden. Sondern – und das ist ja dann auch der rhetorische Trick – gewissermaßen als Scheinfragen, die der Autor Ratzinger dann auch als Scheinfragen entlarven kann. So wird das kirchliche Lehramt zum Igel, der immer schon da ist und alles besser weiß und natürlich zum Schluss auch gewinnt, während die anderen sich wie Hasen mit ihren Fragen und offenen Suchprozessen zu Tode hetzen.

Ratzingers Kampf gegen den Relativismus schließt sich nahtlos an seinen Kampf gegen die Befreiungstheologie an. Diesem sind Theologen wie Leonardo Boff und Ernesto Cardenal zum Opfer gefallen. Immer noch wirft Ratzinger alle Befreiungstheologien in einen Topf. Er verwechselt dabei den Inhalt mit marxistischem Erlösungskampf. So hält er den befreiungstheologischen Ansätzen in Bausch und Bogen vor, mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Staatenwelt Menschen ratlos zurückgelassen zu haben. Das hätte Nihilismus und Relativismus nach sich gezogen. Abgesehen davon, dass mit einer solchen Behauptung 90 Prozent der Befreiungstheologen massiv Unrecht geschieht, zeugt diese Darstellung Ratzingers nicht von intellektueller Schärfe. Von Redlichkeit ganz zu schweigen. Denn mitnichten haben es Boff und Gleichgesinnte an theologischer und – vor allem – an spiritueller und ethischer Orientierung fehlen lassen. Mitnichten haben sie einem Relativismus das Wort geredet, dem das Leben und die Identität von Menschen, Kulturen und Gesellschaften nichts gilt.

Aber was meint Ratzinger mit Relativismus? Warum sieht er darin den Hauptfeind der katholischen Kirche und Theologie? Relativismus meint bei Ratzinger zweierlei:

– Der in demokratischen Gesellschaften existierende Pluralismus. Dieser Relativismus erscheint Ratzinger »als die philosophische Grundlage der Demokratie, die eben darauf beruhe, dass niemand in Anspruch nehmen dürfe, den richtigen Weg zu kennen«. Er bedeute, dass »alle Wege füreinander als Bruchstücke des Versuchs zum Besseren hin« anzuerkennen sind und im Dialog nach Gemeinsamkeit gesucht werden muss. Im politische Raum spricht Ratzinger dem Pluralismus ein gewisses Recht zu, wenn er nicht einem totalen Relativismus – lässt sich denn Relativismus noch steigern? – Tor und Tür öffne. Denn »es gibt Unrecht, das nie Recht werden kann, zum Beispiel Unschuldige zu töten, einzelnen oder Gruppen das Recht auf ihre Menschenwürde und auf entsprechende Verhältnisse zu versagen«. Hier zeigt sich bei Benedikt XVI. ein krasses Miss- und Unverständnis moderner Demokratie. Es sind gerade Demokratien, in denen zweifelsfrei ist, dass Unschuldige nicht zu töten sind und einzelnen oder Gruppen die Menschenwürde nicht abzusprechen ist. In der Vergangenheit auch gegen die Kirche. Und im Gegensatz zu all den Diktaturen, die die Erde schon gesehen hat, die Diktatur der kirchlichen Inquisition eingeschlossen, bis hin zur menschenunwürdigen innerkirchlichen Rechtspraxis, beispielsweise bei Lehrverboten. Demokratie bedeutet nicht die Relativierung von allem, sondern die Auseinandersetzung um den richtigen Weg und der gleichberechtigte Kampf um die Anerkennung dessen, was gültig und recht sein soll. Wer hier – wie Ratzinger – von einer »Diktatur der Mehrheit« spricht, tut allen Demokratieverächtern und Diktaturverehrern einen unakzeptablen Gefallen.

– Den politischen Relativismus sieht Ratzinger in das Feld von Glaube und Ethik überschwappen. Hauptgegner ist in diesem Feld für ihn die pluralistische Religionstheorie. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, den Dialog der Weltreligionen zu betreiben und damit den Frieden zwischen den Religionen zu befördern. Dabei will sie das menschlich bedingte Unvollkommene von Religionen sowie deren kulturelle Begrenztheit beachten. So erst kann man gleichberechtigt miteinander umgehen und einander als gleichwertig achten. Ratzinger aber ist es zuwider, dass der eigene Glaube auf »eine Stufe mit den Überzeugungen der anderen« gesetzt wird und »ihm nicht mehr Wahrheit« zugestanden wird »als der Position des anderen«.

Ein Weiteres: Der Relativismus kommt auch als Demokratisierung der Kirche daher, in dem Versuch, »das Mehrheitsprinzip auf Glaube und Sitte auszudehnen«. Diesen »Relativismus in der Theologie« weist Ratzinger entschieden zurück und proklamiert: »Ein Glaube, den wir selbst festlegen können, ist überhaupt kein Glaube. Und keine Minderheit hat einen Grund, sich durch eine Mehrheit Glauben vorschreiben zu lassen. Der Glaube und seine Praxis kommen entweder vom Herrn her durch die Kirche und ihre sakramentalen Dienste zu uns, oder es gibt ihn gar nicht.«

Das ist überdeutlich und dazu ein klares Eigentor. Denn dann hat eine Minderheit vatikanischer Würdenträger auch nicht der Mehrheit der Gläubigen einen Glauben vorzuschreiben. Insofern Zustimmung. Aber zugleich gehen »Glaube« und »Glaube« durcheinander. Jeder Mensch glaubt seinen Glauben, auf eigene Verantwortung. Was Ratzinger aber meint, ist die Glaubenslehre, das, was über Gott und die Welt gedacht werden darf oder soll. Aber wieso kommt das direkt vom Herrn durch die Kirche zu uns, wenn die Kirche zugleich die Gemeinschaft aller Gläubigen ist, die laut Ratzinger nicht selbst – »wir (!) nicht festlegen können«, also Ratzinger eingeschlossen – den Glauben festlegen kann?

Das Christentum also soll anderen Religionen überlegen sein. Es wird zur wahren Religion erklärt, deren Wahrheit allein die katholische Kirche zu interpretieren, vorzuschreiben und zu repräsentieren hat. Damit aber ist der Theologe vollends bei den vormodernen Positionen angekommen, zu denen das kirchliche Lehramt die Gläubigen verpflichten will. Aus Theologie wird Ideologie, weil sie dann jedes Gegenargument als unangemessen abweist und sich in die Rechthaberei zurückzieht. Ratzinger macht aus Pluralismus und Gleichberechtigung erst Beliebigkeit und Gleichheit und will dann mit seinem theologischen Florett die Luft aus der pluralistischen Theologie heraus lassen. Aber das gelingt nicht wirklich, weil er mit postmodernem Pluralismus und demokratischer Gleichberechtigung nichts anfangen kann.

Mit Blick auf die »heidnischen« Religionen spricht er dann auch noch vom »Sieg des Christentums« über sie. Denn das Christentum sei ja so viel vernünftiger und moralischer als die anderen Religionen. Damit hat Ratzinger sich eigentlich um seine Rolle als ernst zu nehmender Partner in interreligiösen Dialogen gebracht. Aber dieser Papst will da auch nicht Partner sein, sondern endgültige Autorität religiöser Wahrheit. Das ist weder heilsam noch hilfreich, sondern tendenziell fundamentalistisch.

Norbert Copray
Zitate aus: Joseph Kardinal Ratzinger: Glaube, Wahrheit, Toleranz. Herder 2005. 220 Seiten. 16,90 EUR