Aufgelesen
Budweiser Thesen zu einer
"Pastoral mit Zukunft"

17 Denkanstöße

I.
Wir leben in einer Zeit, in der Firmung und Konfirmation fast durchweg zu einer faktischen Verabschiedung aus dem Raum kirchlicher Gemeinschaft und christlicher Lebensorientierung geworden sind. Deshalb ist die Weitergabe des christlichen Glaubens auf ganz akute Weise gefährdet. In unseren Gesellschaften gibt es zudem keine homogene Grundlage religiöser und ethischer Überzeugungen, von denen alle geleitet werden. Der Vorrat an gemeinsamen Glaubensüberzeugungen ist weitgehend erschöpft oder wenigstens verringert. Die Substanz gemeinsamer Werte bröckelt immer mehr ab. Selbst der allenthalben feststellbare Boom des Religiösen erweist sich bei genauerem Hinsehen als zweifelhafter Trost, befinden wir uns doch in einer Zeit der religionsfreundlichen Gottlosigkeit, in einem Zeitalter der Religion ohne Gott. Das durchaus bestehende religiöse Interesse läuft aber weithin am Christentum vorbei und hinein in ein Neuheidentum, das viele Gesichter und Facetten aufweist. Dabei spielt u. a. die "Neue Esoterik" eine nicht unbedeutende Rolle, welche als Hoffnungsträgerin eine Spiritualisierung des Menschen anstrebt und zu vermitteln sucht. Jedenfalls wird in der gegenwärtigen Gesellschaft die Rede von Gott als unwichtig erachtet.

II.
In diesem gesellschaftlichen Kontext gibt es eine Vielzahl von Zeitgenossen, die keine bewussten Atheisten oder religionslos sind, sich aber auf der Suche befinden und dabei sich nicht durchringen können, Mitglied einer christlichen Kirche zu werden und sich mit der kirchlichen Lehre zu identifizieren. Doch sind sie gewillt, ein Stück des Weges mitzugehen. Es gilt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass z. B. in der Bundesrepublik Deutschland rund 80% der Bürger in den neuen Ländern keiner christlichen Kirche angehören und von daher drei Generationen ohne jegliche Begegnung mit dem christlichen Gedanken- und Glaubensgut leben. Zudem ist dies ohne Zweifel ein Kulturbruch, der sich auch in den alten Bundesländern langsam aber stetig niederschlägt, insofern in den dortigen großstädtischen Agglomerationen zwischen 30 - 60% (Hamburg rund 55%, Nürnberg rund 35%) der Bevölkerung konfessionslos sind. Gerade diese Zeitgenossen sind uns als Kirche, wenn wir missionarisch sein wollen, ebenso aufgegeben, und wir dürfen sie nicht außen vor lassen.

III.
Sonderbarerweise lässt sich in unseren säkularisierten und pluralistischen Gegebenheiten kirchlicherseits eine gewisse Selbstzufriedenheit ausmachen, indem man aus Angst den Kontakt mit Andersdenkenden scheut, sich allein auf Gleichgesinnte festlegt und den Gott Jesu als Gott der "kleinen Herde" interpretiert. Zudem herrschen in den christlichen Gemeinden bei nicht wenigen Mitgliedern eine Reformträgheit und Bequemlichkeit vor, irgendwie sind sie "im Guten verhärtet"; hinzukommen noch eine Vollkasko-Mentalität und Konsumhaltung, insofern eine optimale gottesdienstliche und sakramentale Versorgung eingefordert und erwartet wird.

IV.
"Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi" (GS 1). Diese Aussage der Pastoralkonstitution des Vatikanum II muss Leitmotiv und Grundanliegen jeglicher Pastoral der Kirche heute sein. Doch bleibt festzuhalten, dass die Menschen in ihrer Sinnsuche von der Kirche oft allein gelassen werden. Das große Potential der Kirche, den Menschen angesichts ihrer Ängste geisterfüllte Zuwendung zu schenken, wird durch emotionale Distanz vernachlässigt. Von daher wird der christliche Glaube vor allem von Menschen, die der Kirche fern stehen, immer noch mit Geboten und Verboten gleichgesetzt und deshalb abgelehnt. Eigentlich aber ist die christliche Botschaft attraktiv und wirkt befreiend, sie fordert heraus, wenn sie danach fragt, wie Leben gelingen und glücken kann, wofür es sich zu leben und letztlich auch zu sterben lohnt.

V.
Im Kriegsjahr 1944 hat die im Rheinland beheimatete Gruppe "Freunde einer Reform der Kirche" im Hinblick auf die Pastoral der Kirche u. a. folgende Feststellungen getroffen:
a) die wachsende Entfremdung denkender Katholiken von ihrer Kirche;
b) die Mechanisierung der seelsorgerlichen Praxis und die ihr zugrunde liegende mehr oder weniger mechanische Auffassung von der Wirkung der Sakramente;
c) der Mangel an ausstrahlender Liebe und Sorge vor allem gegenüber den außerhalb der Kirche stehenden Menschen.
Die damals benannten Wunden sind, besonders was die erste und dritte Feststellung betrifft, bis heute nicht verheilt. Dies sollte eigentlich zu pastoralen Konsequenzen heute führen.

VI.
In einer säkularisierten Erlebnis- und Spaßgesellschaft, in einer Welt der ambivalenten Dimensionen der Globalisierung und des Zusammenschrumpfens der Werteordnung auf Wertpapiere, in einer Zeit hoher ethischer Desorientierung können die Kirchen in Seelsorge und Liturgie nicht einfach so weiter machen, als habe sich partout nichts verändert. Vielmehr "muss die Kirche den Wandlungen alles Irdischen Rechnung tragen. Sie kann ewige Wahrheiten und ewiges Leben in die Zeit nur hinein tragen, indem sie jedes Zeitalter nimmt, wie es ist, und seiner Eigenart gemäß behandelt" (Edith Stein). Nicht zuletzt von daher sollte ohne Verzug eine grundlegende pastorale Neuausrichtung mutig auf den Weg gebracht werden, um den Übergang in eine "Kirche der Zukunft" zu gestalten und einen Selbsterhaltungsbetrieb nach der Devise "weiter so!" abzustellen.

VII.
Allerdings präsentiert sich der gegenwärtige Kirchenbetrieb weithin dergestalt, dass die Christenmenschen nach bisheriger volkskirchlicher Gepflogenheit hauptsächlich mit Sakramenten versorgt ("sakramentiert") werden und die kirchlichen Angebote zuweilen am wirklichen Leben der Menschen vorbei gehen. Der "heutige Mensch mit seiner Wahrheit" (Romano Guardini) ist aus dem Blickwinkel vielfach entschwunden. Trotzdem darf nicht verkannt werden, dass im heutigen kirchlichen und auch gesellschaftlichen Leben ungeahnt viele positive Aufbrüche und Engagements zu finden sind, die von ausgeprägter Menschlichkeit und Solidarität zeugen. Zu denken ist hier z. B. an das immense Spendenaufkommen bei den verschiedenen Hilfswerken, an den selbstlosen Einsatz vieler bei unerwarteten Katastrophen, an Nachbarschaftshilfe und Pflegeeinsätze. Nicht zu vergessen ist die außerordentlich wertvolle und ehrenamtliche Mitarbeit ungezählter Menschen in den verschiedenen Aufgabenbereichen ihrer Kirchengemeinden und beim Vollzug und der Feier der Gottesdienste.

VIII.
In der gegenwärtigen Zeit darf es für die Kirche nicht allein um die eucharistisch-sakramentalen Vollzüge gehen, sondern entsprechend der Botschaft Jesu stellt sich für sie der hohe und missionarische Anspruch, humane Defizite der Event-Gesellschaft und des Jetset, die Armut, Leiden und Sterben nicht mehr wahrnehmen, in ihrer Verkündigung des Reiches Gottes zu benennen und u. a. in neu entwickelten, mit aussagestarken Symbolen angereicherten kirchlichen Feier- und Segensformen zu thematisieren (z. B. Tauferinnerung mit gesegnetem Wasser und zärtlicher Geste; Gedenkfeier für Hinterbliebene, die einen Angehörigen oder Freund durch Selbstmord verloren haben; Totengedächtnis für Hinterbliebene, die für ihre Verstorbenen kein Grab oder Urnengrab haben; Neuanfang mit einem Segen beginnen; Segen ab-holen, um sich von Angst zu befreien; Segen erbitten, um ein Scheitern zu bewältigen; Mit allen Sinnen feiern und einander mit Öl salben). Solche Feierformen präkatechumenaler und katechumenaler Art stellen auch einen Gegenpol zu der allgemeinen Beschleunigung aller Lebensbereiche dar und sollen von daher Lebensräume aufschließen, in denen Menschen zur Ruhe und zu sich selbst kommen können. Deshalb müssen diese Feiern "gottvoll und erlebnisstark" (Passauer Pastoralplan) gestaltet sein. So braucht es, um in der gegenwärtigen Situation missionarisch Kirche sein zu können, neben den standardisierten sakramentalen Gottesdiensten, welche die geltenden Ordnungen und Strukturen zu beachten haben, diese alternativen und differenzierten Feierformen, die, ohne "gottleer" zu werden, einengende Vorgaben wagemutig überschreiten, wo es pastoral geboten erscheint.

IX.
Es ist eine nicht zu übersehende Realität, dass ungezählte kirchenferne und ungetaufte Zeitgenossen, die mit kirchlichen Inhalten und mit dem christlichen Glaubensbekenntnis nichts anfangen können, sie aber auch nicht direkt und dezidiert ablehnen, von einer für sie undefinierbaren religiösen Sehnsucht umgetrieben werden. Sie befinden sich sozusagen auf der Suche nach Sinn, auf der Suche nach einem glückenden Lebensentwurf, auf der Suche nach Antworten in ihren existentiellen Fragen, auf der Suche nach Wahrheit und Gewissheit, auf der Suche nach Werten und Maßstäben, auf der Suche nach letzter Verbindlichkeit und Verlässlichkeit. Somit kommt ein nicht zu leugnender Hunger nach Spiritualität, nach innerer Ausgeglichenheit und geistiger Tiefe jenseits der Verführung durch das Banale zum Tragen. Es dürfte sich hierbei um eine "scheue Religiosität und Glaubenssehnsucht" (Tomàs Halík) handeln. Mag solch ein Transzendenzbezug auch sehr diffus sein, so erfahren diese Menschen angesichts der fortschreitenden Globalisierung aller Lebensbereiche ihre Hilflosigkeit und ihr Ausgeliefertsein, sie spüren immer wieder neu die Ungesichertheit und Ausgesetztheit ihres Lebens, die Frage nach ihrem Woher und Wohin steht unausweichbar, ja Angst machend vor ihnen. Deshalb drängt es sie nach entsetzlichen Geschehnissen oder bei bestimmten Anlässen in die Kirchen und lässt sie für sich und ihre Kinder den Segen erbitten.

X.
In unserer turbulenten und getriebenen Welt und Zeit ist in besonderer Weise Mut zur religiösen Veranschaulichung und Einsicht erforderlich. Gerade auf dieser Ebene entscheidet sich die Menschwerdung des Menschen, und zwar an der Menschwerdung Gottes. Denn das Menschliche ist die Gottesahnung. Und diese Gottesahnung ist und bleibt das, was der Mensch zu seiner Menschwerdung braucht. Hier handelt es sich um eine noch ungewohnte Spiritualität, die der kirchlichen Pastoral zum Erkennen und Verstehen aufgegeben ist, indem sie immer wieder zu versuchen hat, Gottsuchern eine Gottesahnung, die Ahnung eines "Du", zu vermitteln. Denn "wir brauchen unseren atheistischen Zeitgenossen Gott nicht zu beweisen, sondern wir müssen ihnen helfen, diesen Gott zu erahnen" (Bischof Joachim Wanke).

XI.
Diese Sehnsucht nach einem Gott müsste eigentlich für die Pastoral der Kirchen Anlass genug sein, mutig einzustehen für eine "Rehabilitierung des religiösen Augenblicks" gerade bei Menschen, die sich vorerst und auf absehbare Zeit kirchlich nicht binden wollen. Mit ihnen ist nicht allein das Gespräch zu suchen, sondern vor allem ist ihnen eine menschliche Nähe in Leid und Freude sowie eine festliche Nähe spürbar werden zu lassen. Erfolgen kann dies im Rahmen einer gezielten und durchdachten Vorfeldseelsorge mit Hilfe von Feierformen (siehe Punkt VIII.), die von ansprechenden und ausdrucksstarken Symbolen, von Segenszeichen und spontanen Riten geprägt sind , so dass die Menschen sie als die ihrem Suchen und Tasten wie auch ihrer seelischen Situation und Verfasstheit entsprechendere Form erkennen und bejahen. Es darf nie und nimmer darum gehen, diesen Personenkreis mit "unverdaulichen" Liturgiefeiern und Sakramenten einfach "abzuspeisen" und ihm wahllos "Heilsveranstaltungen" überzustülpen. Wer aus diesem Kreis dann aber nach "mehr" sucht, der sollte sehr sorgsam und sensibel sowie ohne Eile an die Hand genommen und zu den Mysterien hingeführt werden. Die Pastoral der Kirchen hat also mit dem ihr anvertrauten Gut der leibhaftigen Christuswirklichkeit ehrlich und den jeweiligen "Menschen mit ihrer Wahrheit" gerecht werdend umzugehen und darf es nicht nach Art einer Pommes-frites-Bude den Passanten zur Verfügung stellen.

XII.
Eine Pastoral im derzeitigen gesellschaftlichen Kontext hat in erster Linie zielorientiert und nicht aufgabenorientiert zu sein. Angesichts der immer knapper werdenden finanziellen und personellen Ressourcen ist dies der einzig gangbare Weg. Wir brauchen in der gegenwärtigen Situation nicht die in vielen Diözesen und ihren Pastoralplänen immer noch favorisierte und ausschließlich propagierte und gehandhabte kooperative Seelsorge, die im Prinzip dann nur den Untergang verwaltet, indem sie immer einzig die Löcher stopft und den Ist-Zustand eines Selbsterhaltungsbetriebes zementieren möchte (= es ist ja alles gar nicht so schlimm, so lange man einem Priester noch eine vierte und fünfte Pfarrei aufbürden kann), sondern wir benötigen eine Kommunikationspastoral, geisterfüllte Visionen und Mut zu Innovation und Kreativität.

XIII.
Unter "Kommunikationspastoral" ist grundsätzlich eine Risikobereitschaft zu verstehen, die nicht eine sakramentierende flächendeckende Versorgung der Gläubigen verabsolutiert, sondern stärker die am Rande Stehenden, die Menschen mit Schwierigkeiten, die nach Sinn und Erfüllung Suchenden in den Blick nimmt und mit ihnen kommuniziert. Denn "auf Dauer reicht es nicht aus, eine Pastoral durchzuführen, die nur Insider erreicht" (Erzbischof Karl Braun). Es kann doch in einer Kirche, die sich als heutig verstehen möchte, nicht allein darum gehen, nur das noch verbleibende Häuflein der Aufrechten und Frommen zu sammeln, sorgsam zu hüten und gegen die "böse Welt" abzuschotten. Damit wird sie dem Auftrag ihres Stifters nicht gerecht und versperrt den Weg, der ihr durch ihre eigene Botschaft aufgegeben ist. Vielmehr ist es "für die Kirche der Zukunft wichtiger, einen Menschen von morgen für den Glauben zu gewinnen, als zwei von gestern im Glauben zu bewahren" (Karl Rahner). So hinterfragbar diese Aussage auch ist, doch wird damit zum Ausdruck gebracht und gefordert, die missionarische Dimension von Verkündigung und Seelsorge sowie missionarisches Bewusstsein in den Gemeinden wieder stärker ins Blickfeld zu rücken und sich pastoral nicht ausschließlich auf die Christinnen und Christen zu konzentrieren, die ihren Glauben leben und praktizieren, ohne sie fallen zu lassen. Auf gar keinen Fall darf die missionarische Ausrichtung der Pastoral von den oft panischen "Sparorgien" diverser Diözesen reduziert oder gekappt werden; damit würde Zukunft von Kirche verspielt. Andererseits ist erforderlich, niemals suchenden Menschen Glaubenssätze und Moralrezepte um die Ohren zu hauen, sondern ihnen die faszinierende Botschaft Jesu wie einen Mantel hinzuhalten, in den sie hineinschlüpfen können. "In dieser Stunde der Kirche" (Julius Kardinal Döpfner) benötigen wir ganz dringend eine seriöse Vermittlung von Glaubenswissen und "eine offene Katholizität mit geistiger Tiefe und Noblesse" (Tomàs Halík), um die Liebenswürdigkeit des Christentums attraktiv zu leben.

XIV.
Es ist inzwischen eine pastoraltheologische Binsenwahrheit, dass die Kirche in wenigen Jahren eher geprägt sein wird von geistlichen Kristallisationspunkten, von "spirituellen Biotopen" (Bischof Joachim Wanke) und weit weniger von einem ausgeklügelten flächendeckenden Pfarreien-System, dessen lückenlose pastorale und sakramentale "Versorgung" schon sehr bald nicht mehr zu leisten sein wird. Gewiss gibt es im Moment keine Alternativen zu den Pfarrgemeinden, jenen überschaubaren Räumen, in denen Menschen durchaus Beheimatung und Geborgenheit erfahren können. Es kann also nicht darum gehen, die Pfarreien möglichst bald abzuschaffen, zumal eine lebendige und ausstrahlende Pfarrgemeinde jederzeit solch ein geistliches Biotop selbst sein kann. Will Kirche aber überleben, dann sind diese Strukturen zu transformieren, die zudem Seelsorger/innen zum Teil heillos überfordern und in vielfacher Weise krank machen. Den Pfarreien also ausschließliche und allererste pastorale Priorität zuerkennen, dürfte in keinster Weise die Zukunft von kirchlicher Seelsorge sein. Vielmehr sollte pastoral dahingehend motiviert werden, dass Pfarrgemeinden und Biotope (wie z.B. Kloster Helfta) einander ergänzen und bereichern und keine gegenseitige Bedrohung darstellen. Zudem besteht das dringende Desiderat, einmal theologisch anzudenken (vgl. can 210 / CIC 1917), das sakramentale geistliche Amt stärker und differenzierter zu entfalten (z. B. Sakrament der Versöhnung sowie Krankensalbung in der Spitalseelsorge). Dies ist umso mehr geboten, als das Vatikanum II im Vergleich zu Bischöfen und Laien kein einheitliches Priesterbild entwickelt hat, und die Priester nicht zu Unrecht als "Stiefkinder des Konzils" (Gisbert Greshake) bezeichnet werden können. Die priesterliche "Ortlosigkeit" und die Frage nach dem Wesen des priesterlichen Amtes und Dienstes bedürfen einer gebührenden Klarheit. Wenn jahrzehntelanges Beten um geistliche Berufe keine Wirkung zeigt, sollte dies als ein spiritueller Fingerzeig und Anstoß gesehen werden, das Wesentliche des Priestertums und seine Zulassungsbedingungen neu zu definieren.

XV.
Christentum und Kirchen haben als Kontrastgesellschaften im heutigen säkularisierten Umfeld ihre ihnen von Gott zugemutete große Stunde und erhebliche Chancen, die es wahrzunehmen und zu nutzen gilt, da sie ein enormes Hoffnungspotential besitzen. Doch wird dieses bereits seit längerer Zeit nicht mehr abgerufen, da nicht wenige sich ängstlich an die Pessimisten und Unglückspropheten, die angesichts von kirchlichen Neuerungen und gesellschaftlichen Entwicklungen nur schnelle Verurteilungen parat haben, klammern, vor denen Papst Johannes XXIII. in seiner wegweisenden Ansprache zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils eindringlich gewarnt hat. Von Verlustangst durchsetzt und angetrieben von einer rückwärtsgewandten Aktivität verteidigen sie in der Öffentlichkeit lautstark eine Festung, die es so nicht mehr gibt. Doch hat diese besessene Minderheit das Ohr des Publikums, während die durch das Konzil geprägten Christen ohne Umtriebe und aufzufallen ihren Glauben zu leben versuchen. Diese Gegebenheit und die sich immer weiter abzeichnende Säkularisierung der Gesellschaft bringen es mit sich, dass gerade das Seelsorge-Personal von einer depressiven Verstimmung und weit verbreiteten Resignation beherrscht wird, welche die Glaubenskraft wie eine heimlich wirkende Säure zersetzen und einen lust- und freudlosen Dienst der Verkündigung und Vollzug der Liturgie nach sich ziehen. Es ist höchste Zeit, mit dem Gejammere aufzuhören, mehr Glaubensfreude auszustrahlen und aus dieser heraus die "Zeichen der Zeit" (Papst Johannes XXIII.) wahrzunehmen und die Anforderungen der heutigen Zeit an Christentum und Kirchen anzugehen. Zur Bewältigung dieses Auftrages braucht es allerdings Visionen, Mut zum Risiko, Gottesleidenschaft und die Überzeugung, dass jegliche pastorale Tätigkeit letztendlich der gemeinsame Weg und die Einführung in das Gottesgeheimnis und somit ein mystagogisches Geschehen ist. Auf gar keinen Fall darf die Pastoral der Gefahr erliegen, dass Kirche sich mehr und mehr als bürgerliches Serviceunternehmen für verschiedenste Lebenslagen versteht, das man bereitwillig in Anspruch nimmt, wenn es den eigenen Bedürfnissen entgegenkommt, wenngleich auch darin, sofern man die vertikale Dimension nicht außer Acht lässt, durchaus eine Chance liegen dürfte. All diesen pastoralen Anforderungen können Seelsorger/innen allerdings nur mit Hilfe einer tiefen und wirklichkeitsnahen Spiritualität gerecht werden.

XVI.
Die bedachten pastoralen Zusammenhänge stellen in ganz besonderer Weise eine Herausforderung an die Praktische Theologie innerhalb des Fächerkanons einer Theologischen Fakultät gerade an einer staatlichen Universität dar. Denn der Wandel des religiösen und gesellschaftlichen Lebens in den europäischen Zivilisationen sollte sie in ihrem Innersten wachrütteln und herausfordern. In der Situation der Geisteswissenschaften, gerade auch der Theologie, die derzeit wissenschaftspolitisch mit dem Rücken zur Wand stehen und einem Legitimationsdruck ausgesetzt sind, gilt es deshalb, nicht allein geistiges Erbe zu unterhalten und zu verwalten sowie eine binnenkirchliche Gebrauchstheologie anzubieten, sondern theologische Erkenntnisse konkret in gesellschaftliche und kirchliche Prozesse einzubringen und in die heutige Welt und Zeit umzusetzen und zu inkulturieren. Denn "es reicht einfach den Menschen nicht, wenn sie immer nur diesseitige, kurzfristige und Bedürfnis regulierende Sinnhäppchen vorgesetzt bekommen" (Leo Karrer). Es zeigt sich immer mehr, dass die uralten Fragen religiöser Existenz durch die modernen Wissenschaften ungeheuerlich neu dynamisiert werden und keineswegs überholt sind (wie z. B. Bioethik und aktive Sterbehilfe). Und so hat sich die Universitätstheologie auch im praktischen Bereich ganz entschieden auf diese wesentlichen Themen mit engagierter Energie in Lehre und Forschung einzulassen und die christlichen Bilder, ohne in der Substanz etwas aufzugeben, neu zu denken und zu formulieren.
XVII.
Die Zeit drängt; "die Sache Jesu braucht Begeisterte". Es ist angesagt, ohne größere Verzögerungen mit Optimismus und Zuversicht sowie einem Sich-Offen-Halten für die Überraschungen des Heiligen Geistes den "Aufbruch im Umbruch", ein "neues Pfingsten" für eine gute und tragfähige Zukunft von Kirche und Christentum zu wagen. Denn "es ist mir immer sehr fern gelegen, zu denken, dass Gottes Barmherzigkeit sich an die Grenzen der sichtbaren Kirche bindet. Gott ist die Wahrheit. Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht" (Edith Stein).

Karl Schlemmer