23.7.2010 - Publik-Forum Nr.14

Nah bei den Menschen

Was viele Bischöfe in Deutschland ablehnen, praktiziert die katholische Kirche Österreichs: Laien leiten Kirchengemeinden anstelle von Priestern. Mit guten Erfahrungen...

Von Johannes Panhofer

Weil in der katholischen Kirche Österreichs, Deutschlands und der Schweiz Priester fehlen, werden überall Kirchengemeinden zusammengelegt, Großpfarreien und Pfarrverbände gebildet – oft über die Köpfe der irritierten Gläubigen hinweg. Ein Modell, das versucht die Kirche am Ort in ihren Grundfunktionen zu erhalten, ist die Gemeindeleitung unter Beteiligung von Laien nach Kanon 517 § 2 des Kirchenrechts – dort ausdrücklich gedacht als »Notlösung« in Krisenzeiten. Über diese Möglichkeit kann der jeweilige Bischof eigenständig entscheiden. In Österreich greift etwa jede zweite Diözese auf diese Möglichkeit zurück, auch in der Schweiz ist sie sehr verbreitet. In Deutschland bleiben die Bischöfe eher reserviert bis ablehnend. Nachdem in Österreich vor zehn Jahren eine erste empirisch-theologische Studie über Kanon 517 § 2 durchgeführt wurde, liegt jetzt eine zweite Umfrage vor. Der Innsbrucker Theologe Johann Panhofer hat diese Untersuchung mit durchgeführt und die Ergebnisse für Publik-Forum zusammengetragen und kommentiert. Er spricht von einem dynamischen Modell, in dem die Kirche mehr als nur eine Notlösung sehen sollte.

Es ist mir selber peinlich, dass ich noch immer viele Gemeindemitglieder nicht mit Namen kenne und mich in den einzelnen Ortschaften und Siedlungen nicht zurechtfinde.« Dies bekennt Pfarrmoderator Martin Füreder aus der Diözese Linz. Tatsache ist: Die oft beklagte Lebensferne der Kirche wird durch den Priestermangel eher verstärkt als gemindert. Denn immer weniger kirchenamtliche Vertreter sind in die unterschiedlichen sozialen Gruppen am Ort eingebunden. Die Bildung größerer pastoraler Flächen verstärkt diese bedenkliche Entwicklung. Denn sie kommt nicht »dem Wunsch nach Nähe nach, sondern der Versorgung einer Fläche«, wie der Pastoraltheologe Johann Pock kritisch anmerkt.

Durch das Leitungsmodell Kanon 517 § 2 des geltenden Kirchenrechts – Gemeindeleitung durch Laien und Diakone – können die für die »Ausübung der Hirtensorge« beauftragten Leitungspersonen einen Teil dieser menschlichen und seelsorglichen Nähe zurückgewinnen. Obendrein bekommen Pfarrassistentinnen und -assistenten (in Deutschland Pfarrbeauftragte, in der Schweiz Gemeindeleiterinnen und -leiter) über die eigenen Kinder und die Schule verstärkt Kontakt zu den (auch kirchenfernen) Menschen.

Menschen am Rand

Geht die Gemeindeleitung am Ort verloren, schwindet in vielen Fällen der Blick für die Notleidenden, für die Menschen am Rand. Die Hirtensorge, wie sie in Kanon 529 § 1 des Kirchenrechts – der »Magna Charta« des Pfarrerseins – beschrieben wird, ist dann nicht mehr möglich. Nur eine aufmerksame zuständige Person vor Ort kann die vielfältigen Gesichter der Not erkennen, ob es sich um Krankheit, Sterben, Einsamkeit, Familienzwiste, Flüchtlingsschicksale oder anderes handelt.

Damit sorgen Pfarrassistentinnen und -assistenten dafür, dass die diakonale und damit zeugnishafte Seite der christlichen Gemeinschaft nicht verloren geht und die Rede von Gott nicht hohl wird. In vielen Berichten der Studie wird deutlich, dass sich die Menschen jemanden wünschen, der »einfach da ist«, der den Weg mit ihnen mitgeht – eine zutiefst biblische Vorstellung von Seelsorge.

Ein Priester, in der Funktion eines Moderators mehrerer Gemeinden tätig, sieht das ähnlich: »Wenn Menschen merken, dass jemand die eigenen Anliegen ernst nimmt, das heißt, für sie Zeit hat, ihre Fragen und Sorgen versteht und sich im Glauben für sie öffnet, dann bedeutet das für sie Seelsorge. Es spielt so gut wie keine Rolle, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, einen Verheirateten oder Unverheirateten.«

Mehr Mitsprache

Das Modell »Gemeindeleitung durch Laien« ermöglicht, was in unzähligen pastoralen Konzepten gefordert, aber – auch aufgrund fehlender Seelsorgerinnen und Seelsorger – immer weniger umgesetzt werden kann: eine Gemeindebildung auf der Basis der den Menschen geschenkten Charismen, also von Talenten und Begabungen. Bereits im Entscheidungsprozess für diese alternative Form der Gemeindeleitung erfährt die jeweilige Situation der Gemeinde eine besondere Aufmerksamkeit. Fragen nach den spezifischen Ressourcen und vorliegenden Charismen (der Einzelpersonen, Gruppen und Initiativen), aber auch nach den Schwierigkeiten bedürfen eines sorgfältigen Hinschauens. Gleichzeitig erfordert es, die Betroffenen verstärkt in alle Überlegungen einzubeziehen und dann auch mitentscheiden zu lassen. So wird bereits in der Phase, in der über die Modalitäten der Umsetzung des Modells diskutiert wird, das gestärkt, was die weitere Entwicklung solcher Gemeinden auszeichnet: nämlich das Engagement und die Eigenverantwortung der beteiligten Gemeindemitglieder.

Mehr Vielfalt

Durch diesen im wahrsten Sinne des Wortes »ansprechenden« Leitungsstil sind mehr Menschen an der Gestaltung und Durchführung der unterschiedlichsten Aktivitäten in der Gemeinde beteiligt. Auffällig mehr Frauen und Kinder fühlen sich angesprochen und bringen sich ein. Neue und alte liturgische Formen, die keine Anwesenheit eines Priesters erfordern, werden (wieder)entdeckt oder neu entwickelt. »Das gottesdienstliche Leben der Pfarrgemeinde«, so ein Gemeindemitglied in der Befragung, »ist vielfältiger geworden.«

Es entstehen mehr Möglichkeiten zum Engagement und zur Gemeinschaftsbildung. Gegen die zunehmende Individualisierung, ja Anonymisierung der Menschen bilden sich Kommunikationsräume des Glaubens. Ältere Menschen, auch Menschen mit Behinderung, können gezielt angesprochen werden. Die Begleitung der Menschen geschieht nicht nur bei großen Events, sondern nah an ihrem Alltag. Die Kirchengemeinde wird durch klare und verstärkte Mitsprachemöglichkeiten mit in die Verantwortung hineingenommen.

Ein solcher partizipativer Leitungsstil setzt freilich einen wachen Blick der Verantwortlichen und viel Zutrauen in die Fähigkeiten und Kompetenzen der Menschen voraus. Ist beides bei den Gemeindeleiterinnen und -leitern vorhanden, stärkt dies wiederum die Identifikation mit der Gemeinde.

Durch die kreative Mitwirkung vieler geschieht immer auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben, werden mystagogische Prozesse angestoßen, wird der Glaube bezeugt. Noch nie gab es eine so große Zahl verschiedenster Formen der Berufung in der Kirche. Der Wiener Weihbischof Helmut Krätzl ist daher überzeugt: »Wir müssten darum beten, verstehen zu lernen, wo Gott heute, vielleicht anders als bisher, Menschen zum geistlichen Dienst ruft. Ich glaube, er gibt uns da und dort sogar schon Zeichen dafür. Muss die Not noch größer werden, damit wir sie endlich wahrnehmen?« Dies sollte auch für die strukturell benachteiligten Frauen gelten, die zumindest innerhalb dieses Modells nach Kanon 517 § 2 eine leitende Aufgabe übernehmen und ihre spezifischen Charismen besser einbringen können.

Kooperative Kirche

Freilich setzt dieses Leitungsmodell reife und zur Kooperation fähige Führungspersönlichkeiten voraus. Dann können sie die kirchenrechtlich vorgegebene Asymmetrie zwischen Klerus und Laien durch ihren persönlichen Einsatz etwas ausgleichen. Das Bild einer ausgeprägt hierarchischen Kirche erfährt dann eine Korrektur in Richtung einer kooperativen Kirche, in der Kleriker und Laien auf gleicher Augenhöhe zusammenarbeiten. Generalvikar Hansjörg Hofer aus der Erzdiözese Salzburg stellt fest: »Nur wenn sich beide Seiten zurücknehmen, sich gegenseitig respektieren, ergänzen und einander aktiv den Ball zuspielen, kann dieses Leitungsmodell gelingen.«

Es gelingt vor allem dann, wenn traditionelle Rollen in der Kirche weiterentwickelt werden. Das Leitungsmodell nach Kanon 517 § 2 zeigt: Einerseits bewähren sich Laien als gute und verlässliche Seelsorgerinnen und Seelsorger – sie sind es auch dem Wort nach! –, andererseits weckt der regelmäßige und persönliche Erfahrungsaustausch – so die Pfarrassistentinnen – »gute Kräfte« bei den Priestern: Sie fühlen sich in ihrer Arbeit und in ihrer Verantwortung spürbar entlastet; sie erleben, dass sie auch einmal zurücktreten können und dürfen, weil die Laien für sie »einspringen«; und sie werden verständiger für die Situation der Laien.

Pastorale Arbeit wird verbessert

Oft heißt es, eine Zusammenarbeit mit Laien auf Augenhöhe schwäche die Autorität der Priester, verdunkle das sakramentale Wesen der Kirche und mache die Priester damit zunehmend überflüssig. Empirische Studien belegen das genaue Gegenteil: Nur durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Priestern und Laien entstehen und wachsen Verständnis und Achtung füreinander.

Aus praktischer Sicht ermöglicht es das Modell »Gemeindeleitung durch Laien«, dass sich jede Leitungsperson stärker auf ihre spezifischen Talente konzentrieren kann und die Gemeinde davon profitiert: »Insgesamt – so scheint es uns – wird die Qualität der pastoralen Arbeit dadurch erhöht; besonders vom Priester wird diese Konzentration auf das spezifisch Eigene als Entlastung empfunden«, fasst Pfarrassistent Christian Kneisz aus der Erzdiözese Wien die Erfahrungen zusammen. Die Moderatorenrolle in einem Leitungsteam, dem auch Laien angehören, erleben die meisten Priester also nicht als Bedrohung ihrer Identität, sie entdecken dadurch vielmehr eine neue Freude in ihrer Berufung zum Seelsorger. Zugleich wird das Leitungsteam in seiner kooperativen und wertschätzenden Art als vorbildlich, das heißt anziehend, erlebt, wie das Feedback eines Gemeindemitgliedes zeigt: »Es ist schön, euch gemeinsam vorne am Altar zu erleben ... Das färbt dann auch ab auf uns als Gemeinde und das Miteinander-Feiern.«

Werkstatt für morgen

Eine Gemeindeleitung durch Laien setzt bei allen Beteiligten Offenheit und Lernbereitschaft voraus. Es ist anziehend für mündige Christinnen und Christen, die ihre Berufung wahrnehmen und das gemeindliche Leben gleichberechtigt mitgestalten wollen. Man trifft daher in diesem Modell auch überdurchschnittlich viele »Kirchenentwickler« und Pioniere an. Wenn der Innsbrucker Dogmatiker Roman Siebenrock feststellt, dass in der katholischen Kirche zwar die Communio-Theologie (Gemeinschaftstheologie) in der Theorie gut ausgearbeitet sei, aber »eine durchgehende Verwirklichung« fehle, dann wäre – angesichts der sich gegenseitig befruchtenden Zusammenarbeit von Klerikern und Laien – das Laien-Leitungsmodell weniger eine Notlösung als vielmehr ein unvermuteter »Kirchenentwicklungsparagraph«.

Der Kanon 517 § 2 bietet somit eine Art »Werkstatt«, in der eine Kirche von morgen entstehen kann (die freilich noch durch andere Akzente geprägt sein wird). Warum sich manche kirchlichen Verantwortungsträger für die positiven Erfahrungen mit diesem Leitungsmodell nicht interessieren (wollen) oder es gar entschieden ablehnen, bleibt angesichts der ermutigenden Erfahrungen ein Rätsel.

Buchhinweis: Johannes Panhofer/Sebastian Schneider (Hg.): Spuren in die Kirche von morgen. Erfahrungen mit Gemeindeleitung ohne Pfarrer vor Ort – Impulse für eine menschennahe Seelsorge. Grünewald-Verlag. 240 Seiten. 22,90 €. Das Buch ist über den Publik-Forum-Shop erhältlich, Best.-Nr. 8517

Bildunterschriften, Marginalien, Zitate:

Johannes Panhofer geboren 1962, verheiratet, ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck mit den Schwerpunkten Gemeindeentwicklung und Gemeindeleitung.

»Die Menschen wünschen sich jemanden, der einfach da ist und den Weg mit ihnen mitgeht«

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Zuletzt geändert am 10­.08.2010