Forschungsprojekte der DBK

Wir sind Kirche: Studien der Bischofskonferenz über sexuelle Kindesmisshandlungen durch Kleriker werfen Fragen auf

Pressemitteilung München / Bonn, 13. Juli 2011

Die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) wird am 13. Juli 2011 in Bonn zwei geplante Forschungsprojekte vorstellen, die der Ständige Rat der DBK am 20. Juni genehmigt hat. Mit diesen Forschungsprojekten sollen „verlässliche Informationen zu den Fällen des Missbrauchs, zu Vorgehensweise und Motiven der Täter und den Opfererfahrungen“ wissenschaftlich aufgearbeitet und vor allem eine „wirksamere Prävention von sexuellem Missbrauch“ ermöglicht werden.

Die KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche begrüßt, dass – wie schon lange von der DBK angekündigt und auch von Wir sind Kirche gefordert – jetzt endlich alle 27 deutschen Bistümer einer unabhängigen Studie über sexuelle Kindesmisshandlungen durch Kleriker zugestimmt haben. Doch über die Untersuchung von Einzelfällen hinaus müssen nach Ansicht der katholischen Reformbewegung in diesen Forschungsprojekten auch die Fragen nach möglichen strukturellen Ursachen und nach den tieferen Zusammenhängen von Macht, Sexualität und Missbrauch gestellt werden, die zu sexualisierter Gewalt und ihrer oft jahrzehntelangen systematischen Vertuschung führen. Das schließt auch Fragen der kirchlichen Amts- und Machtstruktur ein, denn jeder Fall von sexualisierter Gewalt ist zunächst ein Machtmissbrauch. Auch der Umgang der katholischen Kirche mit dem Thema Sexualität und Homosexualität ist vermutlich ein wesentlicher Teil des Problems.

Umfangreiches Untersuchungsmaterial liegt bereits aus über zehnjähriger Forschung u. a. aus den USA (John-Jay-Report), aus Irland (Ryan Report u. a.) sowie aus Australien und seit Dezember 2010 aus dem Erzbistum München und Freising vor. Anzumerken ist, dass in Ländern wie Italien, Spanien, Portugal und Polen, die ähnlich streng katholisch ausgerichtet und strukturiert waren wie Irland, bisher noch nicht einmal ansatzweise eine kirchenamtliche Aufarbeitung festzustellen ist.

Das Design der deutschen Studien – soweit es bisher bekannt geworden ist – wirft allerdings eine Reihe von Fragen auf:

1) Weshalb verwenden die deutschen Bischöfe nach wie vor eine verharmlosende Terminologie, die in der Fachwelt seit langem obsolet ist? Wenn es einen „sexuellen Missbrauch“ gäbe, bestünde die Möglichkeit zu „sexuellem Gebrauch“. Warum wird die klare Fachterminologie „sexuelle Kindesmisshandlungen durch Kleriker“ nach wie vor gemieden?

2) Im Unterschied zu Irland handelt es sich bei den deutschen Studien nicht um von der Regierung in Auftrag gegebene und terminierte Untersuchungen, sondern um ein nach langem Zögern von den Bischöfen selbst genehmigtes Verfahren. Welche Auswirkungen dieses Zögern auf den Umfang der auswertbaren Akten hat, ist noch nicht absehbar. Für München und Freising wurden 2010 „umfangreiche Aktenvernichtungsaktionen“ festgestellt.

3) Wie werden die Studien mit dem streng vertraulichen vatikanischen Dokument „De Crimine Sollicitationis“ umgehen, in dem 1962 alle Bischöfe angewiesen wurden, sexuelle Vergehen von Priestern „mit größter Geheimhaltung“ innerkirchlich zu verfolgen, und die Opfer unter der Drohung der Exkommunizierung zum Stillschweigen verpflichtete? Dass diese Regelungen weiterhin gültig sind, hatte Kardinal Joseph Ratzinger noch 2001 verfügt, als die römische Glaubenskongregation (vormals „Heilige Inquisition“) mit dem „Motu proprio Sacramentorum sanctitatis tutela“ die kirchenrechtliche Zuständigkeit für sexuelle Vergehen an sich gezogen hat.

4) Bis auf neun Bistümer wurde der Untersuchungszeitraum auf die letzten zehn Jahre begrenzt. Das Phänomen sexueller Kindesmisshandlungen ist jedoch kein Phänomen der jüngsten Vergangenheit. Bereits 1510 beklagte Luther bei seinem Rombesuch vergleichbare Missstände. Neu ist nur, dass die UN-Kinderrechtskonvention aus dem Jahr 1989 das Bewusstsein der Öffentlichkeit verändert und den Überlebenden Stimme verliehen hat. Wann stellt sich die katholische Kirchenleitung endlich der historischen Dimension dieser Verbrechen? Wird eine Kirchenleitung, die als Ursache „Disziplinlosigkeiten im Trend der Zeit“ (u. a. Kardinal Dr. Reinhard Marx in der HerderKorrespondenz Juli 2011) mutmaßt, jemals in der Lage sein, die für eine nachhaltige Prävention notwendige Selbst- und Systemkritik aufzubringen?

5) Die angekündigte Untersuchung (lückenhafter) Kirchenarchive auf Spuren sexueller Kindesmisshandlungen wirft die Frage nach weiteren notwendigen Untersuchungsobjekten auf. Bleibt es wie bisher beim Blick auf die Einzeltäter? Dann schützt sich die Kirche weiterhin vor dringend notwendiger grundlegender Systemkritik. Denn die kirchenrechtliche Verweigerung des Rechtes auf sexuelle Selbstbestimmung des Klerus (sei er homo- oder heterosexuell orientiert) und die Verletzung dieses Rechtes durch Kleriker Heranwachsenden gegenüber stehen in engem Zusammenhang. Die überstrenge Kirchendisziplin kalkuliert die vielfältige sexuelle Fehlbarkeit des Klerus ein, dokumentiert die Fehltritte in schwarzen Personalakten und hat auf diese Weise willfährige Mitarbeitende zur beliebigen Verfügung. So wurden z. B. „höherrangige Personen“ im Ordinariat mit ihrer gleichgeschlechtlichen Orientierung erpresst. Dies stellt u. a. der am 3. Dezember 2010 vorgestellte Abschlussbericht im Bistum München und Freising fest. Wird es im Rahmen der unabhängigen Studien auch Nachforschungen zum System der schwarzen Personalakten geben?

6) Die geplante detaillierte Befragung der Überlebenden sexualisierter Gewalt (sogen. „Opfer“) per Fragebogen wirft einmal mehr die Frage auf, wie viel ungefragte Konfrontation mit dem Tathergang die Überlebenden verkraften. Es entsteht der Eindruck, als seien für ein individuelles Eingehen auf ihre Bedürfnisse weder ausreichend Personal noch ausreichende Mittel vorhanden. Warum verweigern die Bischöfe den Betroffenen nach wie vor die Qualifizierung als „Überlebende“? Wer diese Würde der Betroffenen nicht wahrnimmt und achtet, zeigt einmal mehr, dass er zu einer Begegnung auf Augenhöhe weder willens noch in der Lage ist.

7) Psychologen und Seelsorger, die seit vielen Jahren mit Kleriker-Tätern arbeiten, warnen vor einer einseitigen Schuldabwälzung auf Einzeltäter und vor der Flucht der Kirchenleitung aus ihrer Verantwortung für die Entstehung, für die Konsequenzen und für die allseitige Aufarbeitung der Verbrechen. Das enthebt die Täter in keiner Weise ihrer Verantwortung. Es wirft aber die Frage auf, ob nicht auch die Täter im Blick auf ihr Befinden im System eingehend befragt werden müssen – und nicht nur wie Objekte auf mögliche psychische Störungen hin untersucht werden.


ZUM WEITERLESEN:
  • „Macht, Sexualität und die katholische Kirche. Eine notwendige Konfrontation“ des australischen Weihbischofs Geoffrey Robinson; Oberursel 2010
  • Michael Albus / Ludwig Brüggemann: Hände weg! Sexuelle Gewalt in der Kirche, Kevelaer 2011
  • David Berger: Der Heilige Schein. Als schwuler Theologe in der katholischen Kirche, Berlin 2010
  • Internationale Bewegung Wir sind Kirche zum Bericht der irischen Kommission zur Untersuchung von Kindesmisshandlungen (Ryan Report): www.wir-sind-kirche.de/index.php?id=128&id_entry=2040

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Zuletzt geändert am 13­.07.2011